Grünstadt Diesmal jazzt die Orgel flott

91-81137373.jpg

Uneingeschränkte Zustimmung eines recht stattlichen, aber die Andreaskirche keineswegs ganz füllenden Publikums war am Sonntagnachmittag dem Organisten David Timm und dem Saxophonisten Reiko Brockelt sicher: Sie ließen, was durchaus üblich ist, das Saxophon und, was eher selten vorkommt, die ehrwürdige Kirchenorgel nach Herzenslust jazzen. Damit kam der Kirchheimer Konzertwinter, der meist ein Fest Alter Musik ist, das auch mal bis ins romantische Lied ausgreift, glanzvoll und virtuos in der Gegenwart an.

Timm und Brockelt sind seit langem im Leipziger Musikleben, speziell dem der dortigen Universität, fest verortet. Timm leitet den Uni-Chor, Brockelt die Uni-Big-Band. Überdies sind sie, wie der künstlerische Leiter des Konzertwinters, Dominik Wörner, in seinen gut gelaunten Einleitungsworten verriet, als Jazz-Duo genauso alt wie die Kirchheimer Konzertreihe, nämlich 25 Jahre – also geradezu dazu prädestiniert, die Silbersaison swingend abzuschließen. Der Konzerttitel „Leipziger Barock, Leipziger Romantik, Leipziger Jazz“ ließ den Hörer Musik aus den genannten drei Epochen erwarten. Dem war freilich nicht so. Es erklangen vielmehr von David Timm konzipierte, teils auskomponierte, teils – besonders in den Orgel-Solo-Passagen – improvisierte Jazz-Titel von beträchtlicher musikalischer Komplexität, die Themen von Johann Sebastian Bach (Leipziger Barock), Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagner (Leipziger Romantik) als Ausgangspunkt und Sprungbrett eingängiger Variationen verwendeten. Freilich taugten diese Melodien selten in ihrer Urgestalt zum Jazzen, so dass sie rhythmische und harmonische Modifikationen erfuhren und sich solcherart meist ganz prächtig im Reich der Synkope bewährten. Das war bei abstakten Bach’schen Fugenthemen und Wagner’schen Opernpassagen ästhetisch gar kein Problem. Nur einmal wirkte das Verfahren des Duos etwas grenzwertig: Als es sich nämlich Mendelssohns herrliches Doppelquartett „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir vornahm und unter dem Titel „Angels“ zum Gegenstand einer flotten, duftigen Samba machte. Dessen outrierter Showcharakter ließ die Subtilität des Originals fast schmerzlich vermissen. Da blieb nur, sich von der geistlichen Bedeutung der Melodie zu lösen, um die raffiniert lärmende Fröhlichkeit des Vorgetragenen genießen zu können. Bach’sche Präludien- und Fugenthemen aus der Klavierübung und dem Wohltemperierten Klavier dagegen scheinen sich von Natur aus in gemäßigt jazzender Umgebung so wohlzufühlen wie Fische im Wasser, und so geriet der von ihnen ausgehende Jazzwalzer zum prachtvollen Vergnügen: eine schön fließende, warme Kantilene im Saxophon, eine wirklich swingende Begleitung an der Orgel – gedeckte, milde Register ohne jede Schärfe hoher Mixturen. Das klingt gar nicht viel anders als eine Tanzcombo, und zwar eine gute. Makellose und ungemein lebendige Vortragsweise beider Interpreten, vollstimmige musikalische Komplexität, die dem Hörer immer wieder neue Eindrücke präsentierte, fulminante Pedalsoli, deren rasante Geschwindigkeit die Orgelmechanik an die Grenzen ihrer Möglichkeiten brachte, und die immer neue Auslotung faszinierender Orgelklangfarben fesselten bis zum Schluss. Da gab es einen Wagner’schen Liebestod („love and death“) mit schmalzig-tragischen Akkorden höchster Lautstärke, da äußerte sich Siegfried in reichhaltigen, wunderbar flüssig klar und virtuos geblasenen Mitteilungen – denn Reiko Brockelt brauchte sich mit seinem Saxophon und manchmal mit der Querflöte nicht zu verstecken – kurz: Das Publikum war nach anderthalb Stunden von diesem Fest der spieltechnischen Brillanz und musikalisch-kombinatorischen Fantasie äußerst angetan und verließ geradezu weltlich beschwingt den kirchlichen Schauplatz.

x