Kaiserslautern Malereien von Richard Gerstl in Frankfurter Schirn Kunsthalle

91-96604176.jpg

Lange hat man von dem österreichischen Maler Richard Gerstl (1883 – 1908) weder etwas gehört noch gesehen. Die letzte große Retrospektive fand 1993/94 im Kunstforum der Bank Austria in Wien und im Kunsthaus Zürich statt. Nun hat die Frankfurter Schirn Kunsthalle ihn und sein schmales Werk wieder entdeckt – und feiert den bizarren Selbstmörder in einer glanzvollen Ausstellung als einen der Großen seiner Zeit.

Der Maler als Selbstmörder, 1908. Am 4. November rammt sich Richard Gerstl in seinem Atelier ein Messer in den Leib, springt vom Stuhl und erhängt sich: Sicher ist sicher. Gerstl ist 25 Jahre alt, die Liaison mit Mathilde Schönberg ist gerade zu Ende gegangen. Sie hat ihm aufgesagt, lebt noch 15 Jahre mehr schlecht als recht ihre Ehe mit Arnold Schönberg. Der ist gerade dabei, als Komponist neues Terrain zu betreten. Kaum ist der Konkurrent unter der Erde, wird sein tief depressives zweites Streichquartett in fis-Moll uraufgeführt; mit der nachträglichen Widmung „Meiner Frau“. Eine Geschichte, die im Wien der Jahrhundertwende kaum verwundert. Die Zeit ist reich an seltsamen Vögeln und zeitigt die seltsamsten Konstellationen. Die Freundschaft von Maler und Komponist gehört dazu. Schönberg ist ziemlich erfolglos und notorisch klamm. Gerstl ist auch erfolglos. Aber Geld ist nicht sein Problem, die Familie ist nicht unvermögend. Schönberg sucht nach einer neuen Einnahmequelle, glaubt sich als Maler über Wasser halten zu können. Mit Mathilde nimmt er Malstunden bei Gerstl. Und man fragt sich; wieso ausgerechnet bei dem? Die Geschichte von Richard und Mathilde bleibt ein halbes Jahrhundert ein still gewahrtes Geheimnis. Alle Beteiligten halten den Deckel drauf. Gerstls Bilder werden bei einer Spedition eingelagert. 1931 zeigt Bruder Alois sie dem Kunsthändler Otto Nirenstein. Der erkennt den Schatz und organisiert eine erste monografische Ausstellung. Von etwa 80 bekannten und 60 überlieferten Werken versammelt die Ausstellung 53, ein Viertel sind Selbstbildnisse. Die Kuratoren haben manchen Fehler bereinigt und neue Datierungen vorgeschlagen. Wie das halt so ist, denn Genaues weiß man nicht. Soweit die Fakten. Und dann steht man fassungslos vor diesen Bildern. Ein Torso, das Wort „Werk“ verbietet sich. Was kann der Mann überhaupt? Und wohin geht er? Freuds „Traumdeutung“ hat er nachweislich gelesen. War er manisch-depressiv? Wieder nur eine Vermutung. Keine Vermutung, dass das Selbstbewusstsein des Malers gigantisch gewesen sein muss. Ganz vorne hängt das Selbstbildnis des 19-Jährigen. Schmales Hochformat, nackter Oberkörper, der Hintergrund dunkelblau, eine lichtere Aureole um den hageren weißen Leib: Der Künstler als auferstandener Christus und Artifex divinus, verspottet und auserwählt. Darauf verstand er sich. Daneben das letzte Selbstporträt, nein, nicht gemalt, eine Entladung in heftigen Pinselattacken im elterlichen Wohnzimmer, ein Akt, wie ihn nur Dürer gewagt hat. Marsyas, ein halbgöttliches Wesen, in Wien. Zwischen beiden Bildern hat sich viel getan. Gerstl eignet sich Stile an, kombiniert und wechselt sie im Sturmschritt. Pointillismus, Neoimpressionismus, ein spöttisch-routinierter Hinweis auf den verhassten Wiener Sezessionsstil, Porträts, die irgendwie an Munch erinnern, aber irgendwie keine Porträts sind, jedenfalls keine verkäuflichen. Zum Beispiel das der Schwestern Karoline und Pauline Fey: zwei in einem schmutzig-grauen Kokon gefangene Untote glotzen mit schwarzen Knopfaugen in die Welt. Wer soll das sein? Die vorgeschlagene Beziehung auf Manet klingt dann doch wie Blasphemie. Es reichte, um in die Akademie aufgenommen zu werden. Dort findet man Gerstls Leistungen „nicht genügend.“ Der bleibt gelassen: „So wie Sie malen, kann ich in den Schnee brunzen.“ Nie eine Ausstellung (obwohl es Möglichkeiten dazu gab), kein Bild verkauft. Man muss schon ein dickes Fell haben, um das durchzustehen. Im Sommer 1907 fährt Gerstl zum ersten Mal mit dem Schönberg-Kreis an den Traunsee. In Gmunden malt er ganz kleine Landschafts- und Gartenbilder, die die Natur allenfalls zum Vorwand nehmen und ihrer Zeit weit voraus sind, so wuchernd und aufgewühlt wie sie sind. Immer wieder die heimliche Geliebte, allein, mit Kind, im Gruppenbild, als gesichtsloser Akt, der keine Rückschlüsse auf das Modell erlaubt. Hände malen kann er nicht, Kompromisse machen will er nicht. Im „Gruppenbildnis mit Schönberg“ oder „Die Familie Schönberg“ (beide Ende Juli 1908) kann man sehen, wie das Künstler-Ich zerfällt. Kampfmalerei, die sich selbst unkenntlich wird, Mordversuche in Farbe. Farbe und Form verselbstständigen sich. Alles Stoffliche ist in Auflösung, die Physiognomien ausgelöscht im Tumult der Schleifen, Wirbel und Spiralen. 1917 wird das Verhältnis zu Mathilde entdeckt, der gehörnte Gatte gibt sich großzügig. „Zwei wie wir sollten sich wegen einer Frau nicht entzweien“ Ein Jahr später ist aber Schluss mit lustig. Es kommt zur Flucht des Paares und zum Bruch mit dem Schönberg-Kreis. Und dann muss dem Maler Gerstl die Kontrolle entglitten sein. Einen Selbstmord hatte keiner erwartet. Als der „erste österreichische Expressionist“ ist er in Frankfurt ausgestellt, eine notwendige Erinnerung, die das Rätsel Gerstl auch nicht (ganz) lösen kann. Die Ausstellung Bis 14. Mai in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Täglich außer montags 10 bis 19 Uhr, Mittwoch und Donnerstag bis 22 Uhr. Der Katalog mit neu erstelltem Werkverzeichnis 32 Euro.

91-96604175.jpg
91-96604177.jpg
x