Kaiserslautern Schlafwandler und Gipfelstürmer
Vorsicht! Ein Schlafwandler! Den darf man nicht aufwecken. Denn wehe, wenn er auf dem Dachfirst des Hauses seine ostinaten Riffs spielt. Auf diesem Silberling hören wir ein feinnerviges Pianotrio, das zu einer gegenseitig auf kleinste Schwingungen reagierenden Einheit zusammengewachsen ist. Der in Düsseldorf lebende, israelische Pianist Omer Klein vereint in seinem Spiel tiefgründige Emotionen mit stilistischer Eleganz und spielerischer Originalität. Nicht zuletzt deswegen wurde er gleich zwei Mal für den Echo Jazz 2018 nominiert. Stilistisch ist er auch von Einflüssen jenseits des Modern Jazz inspiriert, so etwa von der traditionellen Musik seiner orientalischen Heimat. „Sleepwalkers“ ist Kleins siebte CD als Leader und sein Debüt für die Major-Plattenfirma Warner. 13 Originalkompositionen sind darauf zu hören, in denen er mit dem Bassisten Haggai Cohen-Milo und dem Schlagzeuger Amir Bresler stilistisch vielgestaltig improvisiert. Anklänge an die Romantik und den Impressionismus sind darin ebenso zu hören wie singbare, teils folkloreartige Melodien und natürlich auch Jazz US-amerikanischer, aber auch europäischer Prägung. Man muss die CD ein paarmal gehört haben, aber dann wird man süchtig. Eine Stunde lang musikalischer Hochgenuss. Kinga Glyk: „Dream“ Dass ihre Internet-Klickzahlen durch die Decke gehen, kann man gut verstehen, wenn man sich dieses Album zu Gemüte führt. Die gerade erst 21 Jahre alte, polnische Bassistin Kinga Glyk ist derzeit die größte Jazz-Sensation in den sozialen Netzwerken. Vor allem in Titeln wie „Dream“ und „Song For Dad“, den sie ihrem Vater und gleichzeitig bisherigen Schlagzeuger und Manager gewidmet hat, rücken ihre selbst komponierten Stücke den Bass in den Mittelpunkt. Auf dem E-Bass spielt sie einen extrem satten, großen Ton und kombiniert dabei das Daumenspiel und eine extreme Beweglichkeit mit einer Oktavtechnik, die den Hörer schlichtweg verblüfft. Und dem fügt das „Wunder am Bass“ in „Tears In Heaven“ noch eine schillernde Flageolett-Technik und ein virtuoses Akkordspiel hinzu, dass man nur so mit den Ohren schlackert. So wie in „Teen Town“, das sie ihrem großen Vorbild Jaco Pastorius gewidmet hat. Sensationell begleitet wird sie von Musikern aus der allerersten amerikanischen Jazz-Liga. Jasmin Tabatabai: „Was sagt man zu den Menschen, wenn man traurig ist?“ Ja, was sagt man zu einem Menschen, der traurig ist? Hör’ Dir am besten diese CD, das zweite Jazz-Album von Jasmin Tabatabai an. Die einfühlsame Musik und die schmiegsame, kultivierte, sensible Stimme der gelernten Schauspielerin werden Dich garantiert trösten und in heitere Stimmung versetzen. Ihre Interpretationen sind gespickt mit atmosphärischen Wechselbädern, unerwarteten Stimmungsumschwüngen und explodierenden Rhythmuswechseln. Dabei überzeugen vor allem die Arrangements von Tabatabais Partner David Klein, der die unterschiedlichsten Kompositionen von Georg Kreisler über Reinhard Mey und den Puhdys bis hin zu Kurt Weill im Jazz-Format remixt. Klein baut zusammen mit Peter Gall (Schlagzeug), Matthieu Michel (Trompete), Olaf Polzieh (Piano) und Ingmar Heller (Bass) einen entspannten und technisch passenden Jazz-Sound, der angenehm unaufgeregt daher kommt. Durchaus hörenswert sind auch die eigenen Songs. Ein Höhepunkt ist das überaus zarte persische Volkslied „Gole Sangam“ („Blume aus Stein“). San2 & His Soul Patrol: „Hold On“ Der begnadete Rhythm&Blues-Sänger San2 katapultiert mit diesem Silberling die schwarze Musik der 1960er und 1970er Jahre ins 21. Jahrhundert – mit einer passenden Prise Pop. Retrosoul, also die möglichst authentisch klingende Neuversion des klassischen Soulsounds der Sixties, ist ein seit Jahren anhaltender Trend. Auch San2, der den Soul auf der Zunge trägt, reiht sich nun dort ein und sticht durch sein Songwriting und seine raue Stimme hervor. Richtig gut ist der Song nur, wenn er richtig aus der Seele kommt, aus dem ehrlich Erzählten. Und das versteht San2 ausgezeichnet – mit einer Stimme, die zwischen Soul und Jazz den richtigen Ton trifft: zwischen Leiden, Lebenslust und Laszivität. Die beiden Bonus-Tracks springen mit ganz neuen Ideen auf San2s Soultrain auf: „Hey Baby“ punktet mit wunderschönen Mellotron-Sounds, ein gelungener Soundverweis an die Beatles. Bei „Nice To Have Met You“ kommen zum ersten Mal Synths zum Einsatz – ein Blues unerhört ungehört. Nils Wülker: „on“ Nils Wülker ist neben Till Brönner derzeit einer der beiden angesagten deutschen Jazztrompeter und -flügelhornisten. Das liegt neben einem hippen Personalstil vor allem auch an der loungig-poppigen Ausrichtung ihrer Musik. Wülkers (wie Brönners) Jazz ist gut hörbar, weit davon entfernt verkopft oder allzu virtuos-sperrig zu sein und ist damit vor allem publikumsfreundlich, was auch auf sein neues Album „on“ zutrifft. Herausgekommen im Juni vergangenen Jahres, vereint es recht unterschiedliche Nummern, und Wülker glänzt erneut mit dem Facettenreichtum seines Sounds. Geprägt ist die CD, die auf Platz 31 der deutschen Pop-Charts einstieg und am Tag der Veröffentlichung die Nummer 3 der I-Tuns-Musik-Charts war, zunächst von einem sehr coolen, loungigen Grundton. Schon im Opener „Trust“ schweben darüber Wülkers klare Trompetenlinien, die sich mitunter auch mal aufgedoppelt im treibenden Fusionjazz austoben („Five Arches“). Aber auch tastend, suchend, entfaltet der 41-jährige Bonner einen elegischen Ton, der schon mal ins verschattete Idyll reicht („Pull Of The Unknown“). Ein herrlich gehauchtes Trompetenintro prägt daneben die Nummer „Headspin“. Richtig wohl fühlt sich der Bläser, dessen Debüt-CD „High Spirits“ 2002 als die erste Veröffentlichung eines deutschen Jazzmusikers bei Sony-Music in die Firmengeschichte einging, im Feelgood-Midtempo, mit deutlicher Nähe zum Soul und Funk. „You Cannot Imagine“ und „Change“ sind dafür Beispiele auf „on“. Wobei in letzterer Nummer Rapper Marteria mit zugange ist, wie überhaupt das vokale Element mal wieder eine gebührende Rolle einnimmt – wenn auch nicht in dem Maße wie beim Vorgängeralbum „up“, für das Wülker stolze acht Gastsänger (darunter Xavier Naidoo, Max Mutzke und Sasha) um sich scharte. Neben Marteria ist es diesmal der Wiener Sänger Rob Summerfield, der gleich zwei Tracks mit seiner entspannten, lässigen Stimme prägt („Never Left At All“ und „Grow“). Zusammen mit den elektronischen Beats und Samples eine sehr zeitgemäße, popjazzige Scheibe, die den Soundtrack für einen lauen Abend an der ein oder anderen Beach-Bar der Republik abgeben könnte. China Moses: „Nightintales“ Wenn man die Tochter von Dee Dee Bridgewater ist, führt kein Weg an der Nennung der prominenten Mama vorbei. Auch wenn China ihre unglaubliche Stimme und ihr Talent praktisch in die Wiege gelegt wurden, ist sie als individuelle Künstlerin doch weitaus mehr als die Tochter einer berühmten Mutter. Der Titel des neuen Albums ist Programm. In elf ausdrucksstarken Songs nimmt uns die Jazz-und Soulsängerin mit durch die Nacht, mit all ihren Facetten, Geheimnissen, Lastern und magischen Momenten. Darin zeigt China Moses, was für eine vielseitige Künstlerin sie ist. Tiefgehender Soul trifft auf groovenden R’n’B, loungigen Jazz und eingängigen Pop. Über allem thront dabei die unverwechselbare warme Stimme der Sängerin. Bei jedem Song kommt eine neue Stimme zum Vorschein. Sexy, leidenschaftlich, swingend, humorvoll. Große Gesangskunst. Aviashai Cohen: „Cross My Palm With Silver“ Auf einer Welle des Erfolgs schwimmt der Jazztrompeter Avishai Cohen (nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen Bassisten). Und so füllt der Trompeter Säle von Amsterdam über London bis nach Helsinki und Oslo. Auch in Deutschland ist er erfolgreich unterwegs, in großen Locations wie der Elbphilharmonie und aktuell beim Jazzfestival im Kulturzentrum Kammgarn. Ob es nun daran liegt, dass der 40-jährige israelische Musiker ins indische Goa übersiedelt ist oder an seinem ureigensten Temperament: Sehr verhalten, verinnerlich, ja meditativ ist die aktuelle CD „Cross My Palm With Silver“. Dass die von Manfred Eicher in den Studios La Bissonne in Südfrankreich produzierte Scheibe im Münchener Wohlklang-Label ECM erschienen ist, passt da vorzüglich ins Bild. Nur fünf Titel weist der Silberling aus, allein der erste („Will I Die, Miss? Will I Die?“) ist jedoch schon über zehn Minuten lang, ebenso die vierte Nummer („Shoot Me In The Leg“). Sie entwickeln sich in einem freieren, rhapsodischen Duktus und knüpfen schon mal an Bebop und Freejazz an, aber auch an eine Harmonik, wie sie die Avantgarde der 1920er Jahre entwickelte („Theme For Jimmy Green“). Den starken improvisatorischen Charakter greifen auch Cohens Mitmusiker Yonathan Avishai (Piano), Barak Mori (Bass) und Nasheet Waits (Schlagzeug) gerne auf. Es entsteht ein komplexes Gespinst der Linien, das sich dem einfachen Hörgenuss oft genug entzieht und ein gutes Quantum Einlassung fordert. Cohen bildet sozusagen einen streng jazzigen Gegenpol zu Nils Wülker, dessen Musik angesichts der Nummern seines Kollegen schon fast wie Easy-Listening-Jazz rüberkommen.