Kaiserslautern Wahnsinn ohne Brusthaar

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Noch drei Tage. Das Mannheimer Literaturfest „lesen.hören“ in der Alten Feuerwache geht am Samstagabend zu Ende. Die elfte Ausgabe. Mit dem Auftritt von Denis Scheck („Druckfrisch“) und Feridun Zaimoglu („Kanak Sprak“). Thema: Luther. Wie war’s denn bisher? Eine Hörprobe. Lesungen. Und kein Brusthaar.

In den Saal der Alten Feuerwache tatütataen die Krankenwagen-Polizei-Sirenen. Ziemlich oft. Dort drinnen klingelingt jetzt seit 14 Tagen Wortmusik. Schnarrrrt die Darth-Vader-auf-Crack-Stimme von Nina Hagen. Kontrabasst der Israeli Tomer Gardi sein sehr besonderes Irgendwie-Deutsch. Die Tierphilosophin und Lyrikerin Mara-Daria Cojocaru liest ihre Verse mit Fußnoten Eisköniginnen-kühl vor. Auch ein Glas scheppert schon mal kreischend zu Boden. Nora Bossong („Rotlicht“) haucht bei ihrem Auftritt doch sonor, oder ist der Eindruck unterkomplexe Psychologie? Im Café sagt eine Frau mit schönen Locken: „Diesen Mantel hatte ich bei Roger Willemsens Beerdigung an.“ Der ewige Schirmherr, Mentor et cetera dieses zwischen Wasserglas-Lesung, Doktoranden-Seminar, Physik und Glamour angenehm wild oszillierenden Literaturfests (Programm: Insa Wilke) ist abwesend von höchster Präsenz. In den Haupt- und Nebengeräuschen. Und sonst auch. Der „Abend für Roger Willemsen“, er heißt „Herzenssachen“, ausverkauft. Der Reporter leider nicht anwesend, dafür aber zum Beispiel bei Nina Hagens ikonischem Auftritt gewesen. Freitags. Klar, denkwürdig das: „Nina Hagen meets Bertolt Brecht. Ein Lieder-Abend zur Klampfe.“ Der Saal überfüllt. In Reihe eins saß ein Bub mit akkurat gefönter Hahnenkamm-Frisur in Grün. Die Punk-Grandma (bald 62) hatte Leggins mit historischen TV-Störbildern an. Buntes Zeug umwallte den Rest, die Haare trug sie explosiv, mit bunten Puscheln, die Zähmung durch Pünktchenschleife lief also leer. Nina Hagen rang auf offener Bühne zwei Stunden lang mit dem Mikro, der Atemluft und dem eigenen Verstand. Ein irrlichternder Auftritt am äußersten Rand des Wahnsinns, Total-Absturzgefahr. Aber großartig natürlich, alles. Doch, sehr sehr großes Ding. Ihr Blick festgetackert auf den Teleprompter, dort die Liedtexte liefen nicht immer in der richtigen Geschwindigkeit. So stand sie, saß öfter, klampfend wie versprochen. Verkackte Einsätze, reibeiste Strophen doppelt. Unvermittelt ihre Kiekser zwischendurch. Fragende Blicke zur Assistentin. Nina Hagen tanzte staksend. Anbei die Begleitband, offensichtlich Anpassungsgenies. Die Sinnhaftigkeit von Nina Hagens Zwischenmoderationen übrigens blieb – really, really – aus. Irgendwas mit Gorleben, Afghanistan, Gott, Schäuble, Liebe, gegen Sie zu Unrecht erhobene Steuerklagen und der Aufforderung Marlene Dietrich „zu googeln“. Ein dichtes Netz verlorener Fäden halt. Jubel trotzdem. Statt Brecht sang sie Dylan („Ein großer Brecht-Fan“) und „Bei mir bist du schön“ (?). Und brachte dann doch noch immer wieder den Meister höchstselbst, aber so was von halsbrecherisch herzschießend gesungen zur Geltung. Das „Friedenslied“, „Das Lied vom Krug“, „Mackie Messer“. Und obendrauf den „Alabama Song“. Vier, fünf Zugaben. Hagen japste. Ab trat nach diesem Trip ein auch völlig fertiger Reporter. Was blieb noch aus den vergangenen Tagen? Am Abend mit Mara-Daria Cojocaru die Erkenntnis, dass interdisziplinäre Seminare über Tiergedichte am Ende des Tagwerks doch auch redlich anstrengend sein können – lohnend aber begrübelbar mit W-Lan. Und Biologen so lustig wie Sebastian Lotzkau. „Nora Bossong auf dem Strich“, wie es im Programm stand. Bleibt! Das mit Julia Westlake besprochene Fazit der literarisch-essayistischen Erkundungen im Rotlicht-Milieu, sie, Bossong, möge Tantra-Massagen ganz gerne. Bossong, eine Veranstaltung zwischen analytischer Intimitätsbewahrung und Hintertür-Voyeurismus einer Klassenbesten. Dass Tomer Gardi sein Adriano-Celentano-Brusthaar bedeckt hielt, für das er im deutschsprachigen Literaturbetrieb weltberühmt ist. Und sein wunderbar musikalisch vorgetragenes Radebrech aus der von deutsch-jüdischer Geschichte unterströmten Roman-Farce „Broken German“. „Ein Stolper. Ein Fall. Lag da auf dem Boden, zerstürzt.“ Erzählt wird so – inspiriert von Gehör-Logik und hebräischem Satzbau – von dem wie sein Autor pointenseligen Israeli Radili Anuan. Wie er sich im „Gebrochenesdeutschsprachigesraum“ bewegt. Ein junger Held und Flunkerer, der von einer Berliner WG zum unfreiwilligen Hauptdarsteller einer Antifa-Dokumentation auserkoren wird. Was kommt noch? Am Freitagabend Zsuzsa Bánk („Helle Tage“), die „von Freundschaft“ erzählt, moderiert von Hubert Spiegel (von der „FAZ“), leider ausverkauft. Am Samstagabend in der Christuskirche das Denis-Scheck-Feridun-Zaimoglu-Happening über Luther. Vor allem kommt heute Abend mit Roman Ehrlich ein „kommender Büchnerpreisträger“. Insa Wilke, die Programmleiterin, als Literaturkritikerin mit dem Kerr-Preis belorbeert, sagt das ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Gute Rubrik übrigens, „Insa Wilke sagt ...“. Wie gut, dass der Titel von Ehrlichs neuem Roman so gar nicht auf das von ihr programmierte Mannheimer Literaturfest zutrifft: „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“, lautet er. Info und Karten https://altefeuerwache.com. Tickets, so weit noch vorhanden, Tel. 0180 6050400

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