Kaiserslautern Walser ist Hegel, Schelling, Hölderlin
Das Resthaar trägt er kurz. Die Augenbrauen nicht. Er geht im Sakko. Drunter das Hemd über der Hose. Ein massiver Kerl immer noch, letzter lebender deutscher Großschriftsteller. Jüngstes Werk, der Roman „Ein sterbender Mann“. Gut, er geht etwas knietiefer. Aufrecht aber. Am 24. März ist Martin Walser 89 Jahre alt geworden. Und jetzt hält er eine Rede über Hegel, Friedrich Wilhelm Georg Hegel (1770 bis 1831). In der Uni Heidelberg, an der der Philosoph vor 200 Jahren ein zweijähriges Intermezzo als Professor gab, spricht Walser. Dienstagabend, 19 Uhr s. t., pünktlich, ein Grauschleier liegt über Hörsaal 14, als würde ein klassisches Konzert gegeben. Lauter Seniorenstudenten? Und draußen vor der Tür kein junger Mensch, der gegen Walser demonstriert wie bei früheren Gelegenheiten, als man den Autor („Tod eines Kritikers“) für antisemitisch hielt. Jetzt indes. Alle irgendwie selig. Haben Bücher zum Signieren vor sich liegen. Sind zusammengerückt. Opas halten aus Platznot das Podest besetzt wie anno Achtundsechzig. Heidelbergs Literatur-Prof-Ikone, Emeritus Dieter Borchmeyer (bald 75), ist mit Fliege erschienen, beinahe karikaturhaft professoral – wie üblich. Borchmeyer ist der Gastgeber sozusagen. Der Einladende. Seit Jahren Kopf der diesmal eben Hegel gewidmeten „Vorträge über Kulturtheorie“. Die Einführung folgt. Verbindlicher Borchmeyer. Walser winkt die Vorab-Huldigungen einfach durch. Eine Handbewegung nur. Ach was. Man duzt sich. Dann los. Titel: „Mehr als schön ist nichts“. Jetzt mal ehrlich, alle dachten, ist von Hegel, das Motto der „Gedanken aus Anlass des ,Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus’. Allerdings stammt es von Walser. Er denke seit einiger Zeit darüber nach, sagt er. „Mehr als schön ist nichts“, Grundidee eines gerade angefangen Romans ist der Satz auch noch. Schnell stellt sich zudem heraus, was – ähm – die Philosophen natürlich schon wussten, das „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist ein erst 1912 erschienenes Fragment, zwei Seiten. Es ist in Hegels Handschrift überliefert worden. Wer es dagegen geschrieben hat? Unsicher. Schließlich wohnte Hegel zur Entstehungszeit mit den Philosophie- und Sowieso-Genies Schelling (Friedrich Wilhelm Joseph, 1775 bis 1854) und Hölderlin (Friedrich, 1770 bis 1843) in einer WG. Der Urheberrechtsstreit schwelt zwischen Philosophie-Professoren. Dem Redner Walser ist er egal. Also schreibt er den Text kurzerhand Hegel, Hölderlin, Schelling zusammen zu und liest ihn in verteilten Rollen. Er führt Regie, lässt Hölderlin mit der Schulter zucken, Hegel zustimmend nicken, „doucement, doucement“, wendet Schelling ein. Fix wird Exegese so Walser-Werk, freischwebende Umarmung. Kein Wunder bei den Steilvorlagen im Urtext. Der drängt zur Aufgabe des Staates, wegen erwiesener Untauglichkeit. Die Poesie ist als „Lehrerin der Menschheit“ aufgerufen. Schönheit hat „den höchsten Rang“. Die Forderung, Philosophie müsse so viel ästhetische Kraft besitzen wie die Dichter, führt Walser bald zu einem seiner Hausheiligen: Karl Barth. „Der bedeutendste Theologe, den ich gelesen habe“, sagt er. Er habe Ähnliches gefordert wie Hegel-Hölderlin-Schelling in ihrem idealistischen Systemprogramm – halt für die Theologie. So geht das voran. Mäandernd nämlich. Zwischen Lieblingsphilosophensätzen von Fichte, Jean Paul, dem „Wilhelm Meister“. Goethes größtes Werk, urteilt Walser, sei aber die gegen alle Konventionen eingegangene Ehe mit Christiane Vulpius gewesen. Bei Hof galt sie keineswegs als Dame. Manchmal scheint es, als würde Walser sich selbst zunicken und interpretieren. Innerlich, bilanzierend, 89-jährig. „Selbstbewusstsein“, zitiert der Autor dann seinen Namensvetter Robert, „ist wissen, wie wenig man ist“. Viel Augenleuchten im Publikum. Dann Schluss. Altherren-Dissens über Hölderlin als Griechisch-Nachdichter flackert noch in einer anschließenden Diskussion auf. „1000 Fehler“, krittelt Hochschullehrer Borchmeyer. Papperlapapp, Walser dazu sinngemäß. Großapplaus schließlich. Walser ab. Draußen, die Jungen, ausgehfein. Noch ungebrochen ihr unbewusstes Selbstbewusstsein.