Karlsruhe Führungen für Demenzkranke im Naturkundemuseum

Seniorinnen bei einer Führung für Menschen mit Demenz im Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe.
Seniorinnen bei einer Führung für Menschen mit Demenz im Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe.

Demenz heißt nicht, dass nichts mehr geht. Manchmal braucht es besondere Reize, um sich zu erinnern. Spezielle Führungen im Karlsruher Naturkundemuseum sollen dabei helfen. Fachleute begrüßen solche Angebote zur Teilhabe ausdrücklich. Für den erhofften Effekt genügt manchmal auch schon eine Wasserschildkröte.

„Da! Da ist er wieder!“ Die Seniorinnen schauen gebannt ins tiefe Blau des Aquariums, wo unzählige bunte Fische schwimmen. Und da ist Karla, der heimliche Star im Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe. Ruhig zieht der Schwarzspitzen-Riffhai seine Runden durch das Korallenriff. Wie sich wohl ein Hai anfühlt? Gerontologin Anna Ziegler hat Schwämme, eine Bürste und Schmirgelpapier dabei. Dass seine Haut rau wie Schleifpapier ist, hätte kaum jemand gedacht. Doch wer will schon mit einem Hai schmusen? Die sieben Frauen jedenfalls nicht. Sie haben schon am Schauen Spaß.

Die Gruppe aus dem Seniorenzentrum Stutensee bei Karlsruhe erlebt einen außergewöhnlichen Morgen: Mit Betreuerinnen nehmen sie an einer Führung für Menschen mit Demenz teil. Das Karlsruher Netzwerk Demenz will mit der gemeinsamen „Reise ans Meer“ Betroffenen und Angehörigen ein besonderes Erlebnis bieten – und zugleich Erinnerungen aktivieren. Die Idee dazu hatte Gedächtnistrainerin und Demenzberaterin Birgit Großhans. Sie ist auch im Naturkundemuseum tätig und dachte sich: Warum nicht beide Welten miteinander verbinden? Zusammen mit Anna Ziegler vom Geriatrischen Zentrum Karlsruhe ViDia hat sie das Konzept entwickelt und im vergangenen Oktober verwirklicht. Finanzieller Träger ist das Karlsruher Netzwerk Demenz, das das städtische Seniorenzentrum koordiniert.

Begrüßung mit Namen und Handschlag

„Wir wollen Teilhabe für die Menschen mit Demenz schaffen“, sagt Großhans. Sie sollten nicht am Rand der Gesellschaft stehen, sondern Wertschätzung erfahren. So begrüßt Anna Ziegler bei der sechsten Führung dieser Art jede einzelne Seniorin im Rollstuhl oder mit Rollator mit Namen und Handschlag. Den Frauen gefällt das. Bei der Runde durch das Museum spricht Ziegler immer wieder Einzelne an. Die Seniorinnen staunen, lachen und kommen aus sich heraus. Ob Netzmuräne, Krake, Clownfische, schwebende Quallen oder sanft wiegendes Seegras: „Ist das schön“, ist immer wieder zu hören. Ebenso wie viel ungläubiges Staunen darüber, wie leuchtend-bunt die Natur sein kann. Am mutigsten ist eine 95-Jährige: Sie befühlt als Erste ein glitschiges künstliches Fischchen und greift interessiert in eine Fühlbox unbekannten Inhalts. Dann zuckt sie zurück. Die darin versteckte Koralle war etwas unvertraut. Doch sofort lacht sie.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft begrüßt das Konzept: „Es ist wichtig und richtig, dass Menschen mit Demenz mit diesen Angeboten eine Möglichkeit für eine soziale und kulturelle Teilhabe erhalten“, betont eine Sprecherin. Angebote für Menschen mit Demenz gibt es auch in anderen Museen – etwa in der Bonner Bundeskunsthalle und im Jüdischen Museum Berlin.

1,8 Millionen Betroffene in Deutschland

Die Alzheimer Gesellschaft sieht angesichts des demografischen Wandels einen steigenden Bedarf. Schon jetzt leben in Deutschland etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Bis 2050 könnte die Zahl demnach auf 2,4 bis 2,8 Millionen steigen. Die Gesellschaft weist zugleich darauf hin: Auch Jüngere können an Demenz erkranken. Geschätzt etwa 100.000 Betroffene leiden vor dem 65. Lebensjahr darunter. Demenz hat viele Gesichter, ein wesentliches Merkmal von Demenzerkrankungen ist die Verschlechterung geistiger Fähigkeiten, bis hin zum Verlust. Die Diagnose ist ein tiefer Einschnitt für Betroffene und Angehörige. „Dennoch bedeutet die Diagnose nicht das Ende des bisherigen aktiven Lebens“, betont Sozialbürgermeister Martin Lenz im „Ratgeber Demenz“ der Stadt Karlsruhe.

Auch die sieben Frauen aus Stutensee haben jeweils ihre eigene Geschichte. Nicht jede Erkrankung fällt auf. Manche sind gesprächig und zugewandt, andere sind zurückhaltender. Von vorangegangenen Ausflügen ins Naturkundemuseum weiß eine Betreuerin aber, dass alle profitierten und noch Tage später davon erzählten. Selbst eine 89-Jährige, die anfangs nur wenig auf Ansprache reagiert, taut am Ende auf: Der Hai scheint auf sie keinen besonderen Eindruck gemacht zu haben – die Wasserschildkröte im nächsten Bassin aber schon. Deren Bewegungen verfolgt sie behutsam mit dem Finger an der Aquariumsscheibe.

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