Geschichten aus der Geschichte Abschiebung: Gemeinde zahlt für Auswanderung

Einer der Armen von Leimersheim: „De Beckefranz“, Neffe von Michael Beck.
Einer der Armen von Leimersheim: »De Beckefranz«, Neffe von Michael Beck.

Die französische Kolonialmacht betrieb im 19. Jahrhundert eine intensive Besiedlungspolitik. Und auch aus der Pfalz siedelten Menschen massenweise um. Einige nicht ganz freiwillig. Denn Gemeinden schickten ihre ärmsten Bewohner nach Algerien – zur Entlastung der Ortskasse.

Auf die französischen Anwerbungen reagierten hauptsächlich ärmere Bauern und Arbeiter, denen die Überfahrt nach Amerika zu teuer war. Unterstützt wurden einige der Algerienauswanderer zumindest finanziell, was günstiger war, als wenn sie der Ortsfürsorge und dörflichen Armenpflege zu Last gefallen wären. Diese Auswanderer brachten es nicht „vom Tellerwäscher zum Millionär“, sondern nagten weiter am Hungertuch, starben an Unterernährung, Krankheiten oder den klimatischen Verhältnissen. Einige fanden den Weg zurück ins Heimatdorf, blieben oder zogen später ins nächste Land der Hoffnung, nach Nordamerika, bis auch die USA die Einwanderung massiv erschwerte.

Enttäuschte Rückkehr

Zwischen 1845 und 1854 zogen 86 Leimersheimer nach Algerien. Unter den ersten war auch die Familie von Johannes und Maria Barbara Kuhn, die fünf Tage vor Heiligabend 1845 mit fünf Kindern unter 10 Jahren ihr Heimatdorf verließen. Nachdem im Folgejahr drei der Kinder starben, kehrte der Rest der Familie im Januar 1847 enttäuscht zurück. In Leimersheim erblickten drei weitere Kinder das Licht der Welt. Nach dem Tod des Familienvaters und zwei der Kinder wanderte die 45-jährige Mutter mit den drei überlebenden Kindern im September 1856 nach Nordamerika aus. Sie siedelten sich offensichtlich in Erie, Pennsylvanien, an, wohin es die meisten der mehr als 1000 Leimersheimer Auswanderer zog und wo der zweitjüngste Sohn Philipp 1903 starb.

Familienschicksal gut dokumentiert

Manchen Amerikaauswanderern reichte das Geld für die Weiterfahrt vom Zielhafen New York bis nach Erie oder Cleveland nicht. Sie blieben im Industrierevier von New Jersey hängen. Das Schicksal der neunköpfigen Familie des „arbeitsscheuen“ Schreiners Michael Beck ist besonders gut dokumentiert. 1846 als Sohn eines nicht katholischen zugezogenen Schreiners und der Tochter eines in Leimersheim hängen gebliebenen böhmischen Soldaten der österreichischen Armee geboren, heiratete er 1871 Theresia Herberger aus Rheinsheim mit der er zwischen 1870 und 1881 sieben Kinder bekam. Da er seine Familie nicht ernähren konnte, kam der Leimersheimer Gemeinderat am 14. Mai 1881 zusammen, um sich über eine abschiebeähnliche Auswanderung mit Unterstützung der Gemeinde Gedanken zu machen. Man stellte fest: „Der dahier heimat- und unterstützungsberechtigte Michael Beck mit Frau und 7 Kinder, eine vollständig mittellose Familie, deren Kinder so wie sie laufen können, dem Bettel obliegen, genannter Beck ein arbeitsscheuer, dem Forst- und Jagdfrevel obliegender Mensch, dessen Ortsentfernung Jedermann dringend wünscht, erbot sich, mit Unterstützung der Gemeinde nach Amerika auszuwandern unter Begleitung seiner Familie. Der Gemeinderat, froh diesen gefährlichen Menschen und seine beschwerliche Familie auf diese Weise für immer“ los zu werden, beschloss: „In Erwägung, daß über kurz oder lang der Unterhalt dieser Familie sicher der Gemeinde zu Last fällt, [...], daß Beck [...] seiner Aussage nach in New York einen Onkel hat, der ein Möbelgeschäft betreibt, so daß zu erwarten ist, daß sich Beck durch Noth dazu getrieben, einer anderen Lebensweise anbequemt“ wurden für die Überfahrt nach Amerika und für Reisekosten 500 Mark aus der Gemeindekasse bereit gestellt. Für Kleidung und weiteres wurden nachträglich weitere 70 Mark Unterstützung aus der Gemeindekasse bewilligt. Der Auswandereragent Bernhard Behr wurde damit beauftragt, „die sichere Abreise dieser Familie“ zu überwachen.

Streit um Kosten

Der Leimersheimer Behr arbeitete für die Auswandereragentur von Julius Goldschmit mit Sitz in Ludwigshafen. Von letzterem wurde ihm am 9. Juni 1881 mitgeteilt, dass Beck bei der Ankunft in Amsterdam bereits sein ganzes Reisegeld verprasst hatte und deshalb entstandene Wirtshauskosten nicht bezahlen konnte. Wäre die offene Rechnung nicht von einem Mitarbeiter Goldschmits übernommen worden, wäre die Familie in die Hände der Polizei gefallen und „auf Kosten der Gemeinde zurückspedirt worden“. Die vorgelegten 30 Mark und 60 Pfennige wurden vom Leimersheimer Bürgermeister Ulrich eingefordert. Zum wiederholten Male musste sich der Gemeinderat beratschlagen und der „Abschiebung“ der ungeliebten Familie eine erneute Finanzspritze verpassen: „Laut Zuschriften des Generalagenten Julius Goldschmit in Ludwigshafen vom 9ten Juni kam der aus Gemeindemitteln nach America spedirte Michael Beck entblöst von allem Gelde in Amsterdam an trotz dem er in Ludwigshafen genügende Mittel besaß, um ohne Ausstand seine Auslagen bis zur Einschiffung bestreiten zu können. Ob derselbe nur Armut fingirte oder ob er unterwegs sein Reisegeld verlumpte ist nicht festzustellen. In Amsterdam lag Gefahr nahe, daß Beck polizeilich zurückgeschickt würde, wenn nicht Jemand die Auslagen für Kost und Logis für diese Familie bestreiten würde. Um der Gemeinde diese Calamität zu ersparen trug sich der Director der Amsterdam Dampfschiffahrtslinie, welche Beck und Consoreten beförderte, für deren Zehrungskosten stark, zahlte dieselben in Betrag 30 M 60 und ließ sie durch genannten Goldschmit von hiesiger Gemeinde anfordern. Der Gemeinderat, anerkennend, daß hier in diesem Falle ganz nach seiner Intension gehandelt worden sei, beschließt: Es sei an den Generalagenten Julius Goldschmit in Ludwigshafen, der liquidirte Betrag von dreißig Mark und sechzig Pfennig aus der Gemeindekasse zu [...]“

Rettung scheitert an Bürokratie

Michael Beck lebte mit seiner Familie zumindest bis Ende des 19. Jahrhunderts in Jersey City, wo 1894 seine Frau starb und die älteste Tochter im selben Jahr heiratete und Jahrzehnte später ebenfalls starb – im hohen Alter von 87 Jahren. Ob Beck im Möbelgeschäft seines Onkels Anstellung fand, ist nicht bekannt. Becks Schwester Josephina blieb in Leimersheim, heiratete den Tagner Johann Michael Marthaler und bekam von diesem einen Sohn, der als Hausierer unter dem Spitznamen „de Beckfranz aus Lämersche“ bekannt war. Der jüdische Handelsmann und Auswanderungsagent Bernhard Behr starb vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Seine Frau Johanna und Tochter Stella kamen 1940 ins Internierungslager Gurs, wo Johanna im Jahr darauf den unmenschlichen Lebensbedingungen erlag, während Stella 1942 im KZ Auschwitz ermordet wurde. Ihre Bemühungen zum Bruder nach Brasilien auszuwandern, scheiterten an der Bürokratie aller beteiligten Staaten.

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