Lustadt Stolpersteine: Der Schrecken und die Versöhnung

Etwa 60 Menschen sind zu der Gedenkfeier gekommen.
Etwa 60 Menschen sind zu der Gedenkfeier gekommen.

Zum ersten Mal sind am Samstag in Lustadt Stolpersteine verlegt worden. Die Urenkel von Jakob und Wilhelmina Weil waren gekommen, um die Geschichte der Vertreibung und Ermordung ihrer Vorfahren zu erzählen. Es ist eine Geschichte von Grausamkeit und Hass, später aber auch von Versöhnung.

Etwa 60 Menschen waren am Samstagvormittag an das unscheinbar anmutende Haus in der Oberen Hauptstraße in Lustadt gekommen. Heute hat hier ein Immobilienmakler sein Geschäft. Vor 86 Jahren war das Haus die Heimat der jüdischen Familie Weil. In der Reichspogromnacht wurde ihnen diese Heimat von Nazi-Schergen weggenommen. An dieses Verbrechen und an die Gräuel, die der Familie später noch widerfahren sollten, erinnern nun zwei Stolpersteine.

Aus Chicago, Kalifornien, England und Israel waren die Nachfahren der Weils nach Lustadt angereist, um die Geschichte von Jakob und Mina zu erzählen. Die Sprecher sind Cousins zweiten Grades, sie alle sind Urenkel des Ehepaars Weil. „Wir sind heute vor dem Haus versammelt, in dem Mina und Jakob Weil fast fünf Jahrzehnte lang lebten – von 1890 bis zur schicksalhaften Nacht des 9. November 1938“, begann Michael Landy seinen Vortrag. „Hier haben Mina und Jakob ihre acht Kinder großgezogen. Hier ist unsere Großmutter Erna geboren und aufgewachsen. Unser Vater und Onkel Ernest sowie unsere Mutter und Tante Sue verbrachten hier als Kinder freudige Besuche. Die Familie Weil war tief in dieser fruchtbaren Region verwurzelt, nur wenige Kilometer vom großen Rhein entfernt.“

Der Künstler Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Oberen Hauptstraße.
Der Künstler Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Oberen Hauptstraße.

Der 1856 geborene Jakob Weil war im Viehhandel tätig und besaß auch eine koschere Metzgerei. Im Alter von 34 Jahren heiratete er Wilhelmina Mayer, „eine Schönheit aus Östringen jenseits des Rheins“. Mina war als versierte Köchin bekannt, ihre Nachfahren kochen über 100 Jahre später noch immer gerne ihre Gerichte. „Als Ehefrau und Mutter hat Mina nicht nur acht Kinder großgezogen und einen Haushalt geführt, der stundenlange körperliche Arbeit erfordert. Sie verwaltete auch den kleinen Familienbauernhof und half dabei, ihre Familie und viele Besucher zu ernähren. Wir freuen uns, dass der kleine Küchengarten weiterhin liebevoll gepflegt wird“, so Landy weiter.

Im Greisenalter schlimmer Verfolgung ausgesetzt

Mit der Machtergreifung der Nazis sollte sich das Leben der Familie jäh ändern. Bereits im greisen Alter, Jakob war 82, Mina 69 Jahre alt, sah sich das Paar und seine Familie plötzlich schlimmer Verfolgung ausgesetzt. „In der Reichskristallnacht wurde das Haus von Mina und Jakob von Nazi-Sympathisanten angegriffen. Wir wissen, dass das alte Ehepaar nur mit seinen Nachthemden auf die Straße gestoßen wurde.“ Sie flohen später nach Amsterdam, waren gezwungen, das Haus in Lustadt zu verkaufen.

Doch nach dem Einmarsch Hitlers 1940 waren sie auch in den Niederlanden vor dem Naziterror nicht sicher. Versuche, ein Auslandsvisa zu ergattern, scheiterten. Ihren 50. Hochzeitstag begangen die beiden in einem Versteck. Jakob folgte einem Befehl der Besatzer, sich als Jude registrieren zu lassen, verstarb dann auf dem Rückweg an einem Herzinfarkt. „Mina war jetzt allein im Versteck. Aufzeichnungen belegen, dass sie am 29. Januar 1943 verhaftet und wie die Familie von Anne Frank in das Durchgangslager Westerbork im Norden Hollands gebracht wurde. Kurz darauf wurde unsere Urgroßmutter Mina in einen überfüllten Viehwaggon gezwungen. Sein Ziel: das Vernichtungslager Auschwitz in Polen. In deutschen Archiven ist der Tag ihrer Ermordung aufgeführt: 1. Februar 1943. Unsere Urgroßmutter beendete ihr Leben alleine, ohne Familienangehörige, die ihre Angst trösten konnten. Mina Weil wurde 73 Jahre alt.“ So schloss Michael Landy seinen Vortrag.

„Ein magischer, sagenumwobener Ort“

Jack Ohringer, ebenfalls ein Urenkel der Weils, berichtete danach von den Erinnerungen seines Großvaters Artur. Er sei dankbar, im sagenumwobenen Dorf Lustadt sein zu dürfen. „Für mich ist ,Luscht' ein magischer, traumhafter Ort, über den mein Großvater oft erzählt hat, als er sich an die unbeschwerten Tage seiner Jugend erinnerte.“ Artur diente im Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg heiratete er eine Frau aus Heidelberg, die bald Ohringers Mutter Inge zur Welt bringen sollte, und arbeitete im Tabakgeschäft seines Schwiegervaters. Am Tag nach der Kristallnacht wurde er ins Konzentrationslager Dachau verschleppt, das er glücklicherweise lebend verlassen konnte – mit der Drohung, man würde ihn und seine Familie umbringen, sollte er nach Deutschland zurückkehren. Mit Umweg über Kuba und England schaffte er es schließlich, ein US-Visa zu ergattern. Ohringer hat seinen Großvater als glücklichen Mann in Erinnerung, der sich trotz seiner Vergangenheit nie verbittert zeigte. „Eines Tages sah er mich an und sagte mit dem Blick des alten deutschen Soldaten, der er war: „Weißt du, was heute ist?“ Natürlich wusste ich das nicht. „Nun, es ist der Geburtstag des Kaisers“ und er erhob das Glas, um anzustoßen. Trotz alledem verspürte er immer noch ein Ehrgefühl für das alte Deutschland, für die alten Tage in Luscht.“

 Birgit Emnet, Ruth Landy, Jochen Emnet und Mike Landy (von links nach rechts) erinnern an Jakob und Wilhelmina Weil.
Birgit Emnet, Ruth Landy, Jochen Emnet und Mike Landy (von links nach rechts) erinnern an Jakob und Wilhelmina Weil.

Ein weiterer Nachkomme, David Siegel, bedankte sich, dass er seine Urgroßeltern ehren durfte. Sein Eltern, Wolfgang und Susanne Siegel, waren in Landau aufgewachsen und flohen 1937 in die USA. Seine Großeltern Siegried und Anna Siegel wurden in Theresienstadt ermordet. „Ich möchte unseren Respekt und unsere Dankbarkeit für den Mut zum Ausdruck bringen, den viele deutsche Bürger wie Sie gezeigt haben, die bereit waren, direkt und ehrlich auf diese dunkle Zeit der Geschichte zu blicken, und vor allem für Ihre Bereitschaft, darüber in Ihren Schulen zu unterrichten“, schloss Siegel.

Gutes nachbarschaftliches Verhältnis

Als letztes sprach Ruth Landy. Sie bedankte sich bei Eleonore Emnet und ihren Kindern Birgit und Jochen. Die Emnets hatten das Haus der Familie Weil nach deren Vertreibung erstanden, es ist noch heute im Familienbesitz. „Unsere Familie hatte vorher gegenüber gewohnt“, berichtet Birgit Emnet. „Meine Mutter war damals gerade zwei Jahre alt. Zu den Weils hatte vorher ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis bestanden.“ Als Zeichen der Wiedergutmachung stiftete Eleonore Emnet die Stolpersteine, Birgit und Jochen übersetzen bei der Gedenkfeier die Reden der Weil-Nachkommen ins Deutsche.

Zum ersten Mal sind in Lustadt Stolpersteine verlegt worden.
Zum ersten Mal sind in Lustadt Stolpersteine verlegt worden.

„Wir können die Gräueltaten des Nazi-Regimes nicht verzeihen“, sagt Ruth Landy. „Aber unsere Generation kann sich für eine Versöhnung einsetzen. Wir sind Ihnen zutiefst dankbar für all Ihre Bemühungen, dies voranzutreiben.“ Mit den letzten Worten dieser Gedenkveranstaltung erinnerte Landy daran, dass der Hass letztlich nicht triumphieren konnte. Der Weil-Clan, der in der Lustadter Hauptstraße seinen Anfang genommen hatte, ist immer noch da, aller Bemühungen der Naziverbrecher zum Trotz. „Wir, ihre Urenkel, sind über Generationen hinweg Empfänger ihrer Liebe. Es ist die bedingungslose Liebe, die Mina Ihren Kindern und Enkelkindern gegeben hat. Sie haben diese Liebe an uns weitergegeben, so wie wir sie jetzt an die nächste Generation weitergeben. Unsere Anwesenheit hier ist ein Beweis dafür, dass Funken ihres Geistes noch immer in der Welt leben. Und dass wir dieses Licht in die Zukunft tragen werden. Möge Ihr Andenken und das Jakobs ein Segen sein.“

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