Auf der Tonspur Das Geheimnis der Geistersängerin: Warum Filmmusicals herausfordernd sind

Im Film „Dancer in the Dark“ , der am 20. Mai im Cinema Quadrat gezeigt wird, spielt Regisseur Lars von Trier auf den Eskapismus
Im Film »Dancer in the Dark« , der am 20. Mai im Cinema Quadrat gezeigt wird, spielt Regisseur Lars von Trier auf den Eskapismus an, der in den Filmmusicals der 50er- und 60er-Jahre gepflegt wurde. Hauptdarstellerin Björk übernahm den Gesangspart selbst – was sonst gar nicht selbstverständlich ist.

Filmmusicals aus Hollywood entführen das Publikum in Traumwelten. Die Darsteller und Macher werden jedoch vor besondere Herausforderungen gestellt. Im ersten Teil der Serie rund um Filmmusik erzählen wir, warum Russell Crowe meckerte, Audrey Hepburn enttäuscht wurde und wessen namenlose Stimme weltberühmt ist.

Lars von Trier und Musical – das klingt nach einer eigenwilligen Kombination, doch in seinem Film „Dancer in the Dark“ (2000), den das Mannheimer Programmkino Cinema Quadrat am kommenden Montag zeigt, kann man genau das erleben: von Trier erzählt die ebenso beklemmende wie berührende Geschichte der blinden Fabrikarbeiterin Selma, die sich in Tagträumen aus ihrem tristen Alltag in die sorgenfreie Welt der Hollywood’schen Filmmusicals flüchtet. Der dänische Regisseur kombiniert hierfür Stilmittel des „Dogma-Films“ mit denen des Filmmusicals und reflektiert so eindrucksvoll über Topoi und Genreklischees von Hollywood-Musicals – etwa, wenn sich aus den Maschinengeräuschen der Fabrik, in der Selma arbeitet, eine ausgedehnte Tanznummer entspinnt. Mit dem isländischen Pop-Superstar Björk, die nicht nur die Hauptrolle verkörpert, sondern auch die Filmmusik komponierte, fand von Trier dabei eine künstlerische Partnerin, die es in ihrer Musik gekonnt versteht, Genrekonventionen des Musicals aufzugreifen und mit ihrem eigenen, unverwechselbaren Stil zu kombinieren.

Stumme Lippenbewegungen

Lars von Trier ist mitnichten der einzige Regisseur, der sich im Lauf seiner Karriere mit Filmmusicals auseinandergesetzt hat: Egal ob Martin Scorsese („New York, New York“, 1977, für den die „Cabaret“-Autoren Kander und Ebb den ikonischen Titelsong schrieben), Tim Burton („Sweeney Todd“, 2007), Clint Eastwood („Jersey Boys“, 2014) oder jüngst Steven Spielberg („West Side Story“, 2021), das vielfältige Genre übt bis heute auch auf Hollywood-Größen eine ungebrochen starke Faszination aus.

Entstanden ist das Filmmusical zusammen mit dem Tonfilm. Schon der erste Tonfilm der Geschichte „The Jazz Singer“ (1927) unterbricht die Handlung durch eingeschobene Gesangsnummern. Mit Musicals wollte man bewusst die Möglichkeiten der neuen Technik aufzeigen. Für die frühen Vitaphone-Musicals von Warner Bros., wie „42nd Street“ (1933), auf den auch Lars von Trier in „Dancer in the Dark“ mehrfach verweist, entwickelte man ein Produktionsverfahren, das bis heute charakteristisch ist: Im Gegensatz zu allen anderen Formen von Filmmusik wird die Musik bei Musicals in der Regel vor dem eigentlichen Dreh aufgenommen. Die Darsteller kommen zunächst in ein Tonstudio und singen ihre Nummern ein; am Set spielen sie dann zu Playback und bewegen dabei (oftmals stumm) die Lippen. Helena Bonham Carter erklärte in einem Interview zur Entstehung von „Sweeney Todd“, wie herausfordernd es sei, die Musik einzusingen, bevor eine Szene inszeniert ist, und wie sie sich schon im Tonstudio ihre Bewegungen oder Spielpausen vorstellen musste, damit die Tonspur später zu ihrer Darstellung am Set passte.

„Les Misérables“ braucht mehr Realismus

Um diesen Problemen bei der Produktion eines Filmmusicals entgegenzuwirken, entschied sich Cameron Mackintosh bei der Filmversion des Musicals „Les Misérables“ (2012) dazu, einen radikal anderen Ansatz zu probieren: Die Darsteller um Anne Hathaway und Hugh Jackman sangen ihre Nummern live am Set, während sie ein Pianist auf einem Keyboard begleitete. Im Aufnahmestudio musste dann ein Filmorchester die Begleitung zu den existierenden Gesangstonspuren nachträglich aufnehmen. Durch diese neuartige Produktionsmethode wollte man den Darstellern in „Les Misérables“ größere Freiheit in ihrer Darbietung einräumen und gleichzeitig die Musikszenen realistischer gestalten – eine künstlerische Entscheidung, die in diametralem Gegensatz zu den Filmmusicals der 1950er- und 60er-Jahre steht, die bewusst die Realität verlassen und sie durch fantasievolle Traumwelten ersetzen wollten – man denke nur an die großen Fred Astaire und Ginger Rogers-Filme. Genau auf dieses Traumtänzerische, den Musical-Eskapismus, bezieht sich auch „Dancer in the Dark“.

Der Nachteil eines Live-Produktionsvorgangs ist ein weniger polierter Sound und eine größere Anstrengung für die Sänger beim Dreh, die im Falle von „Les Misérables“ ihre Szenen einschließlich Gesang oft mehrfach direkt hintereinander wiederholen mussten: bei den komplexen Songs dieses Musicals eine äußerste Herausforderung für die Schauspieler und deren Stimmen. Entsprechend gab (und gibt) es zu diesem Produktionsverfahren immer wieder kritische Stimmen. Prominent zu nennen wäre hier Russell Crowe, dessen gesangliche Darbietung in „Les Misérables“ im Tonstudio sicherlich um einiges besser gewesen wäre als bei den Live-Aufnahmen am Set.

Unterstützung für bevorzugte Blondinen

Allgemein führten die gesanglichen Fähigkeiten von Schauspiel-Superstars, die man in Filmmusicals gecastet hat, in der Filmgeschichte immer wieder zu Problemen: So sang beispielsweise Audrey Hepburn für „My Fair Lady“ (1964) zwar alle ihre Lieder im Vorfeld der Produktion selbst ein, ihre Gesangsstimme wurde für den endgültigen Film jedoch – sehr zu Hepburns Enttäuschung – durch Marni Nixon nachsynchronisiert. Nixon war damals in Hollywood keine Unbekannte, wenn es um Filmmusicals ging. Auch in „West Side Story“ (1961) sang sie die Gesangsparts von Maria-Darstellerin Natalie Wood oder übernahm einige schwierige Passagen von Marilyn Monroe in „Blondinen bevorzugt“ (1953). Nixon war damit eine der bekanntesten sogenannten „Geistersängerinnen“ Hollywoods, wobei es der Darstellerin vertraglich ausdrücklich verboten war, über ihre Mitwirkung an den Filmen zu sprechen. Man verkaufte ihre Stimme als die der Schauspiel-Stars – etwas, über das sich im Film „Singin’ in the Rain“ (1952) übrigens pointiert lustig gemacht wird.

„Wicked“ mit Spannung erwartet

Heutzutage bedient man sich, wie etwa in Spielbergs Neuverfilmung der „West Side Story“, einer Mischung aus voraufgenommenen Studio-Tracks und Live-Aufnahmen vom Set, die man miteinander kombiniert. Bei der aktuell mit großer Spannung erwarteten Filmversion des Musicals „Wicked“, die Ende des Jahres ins Kino kommen soll, bestanden laut Aussage von Regisseur Jon M. Chu die Hauptdarstellerinnen Cynthia Erivo und Ariana Grande jedoch darauf, alle ihre Musiknummern komplett live einzusingen. Auf das Ergebnis kann man gespannt sein – immerhin besteht bei diesen beiden versierten Darstellerinnen – ebenso wie bei Björk in „Dancer in the Dark“ – keine Gefahr, dass Geistersängerinnen zum Einsatz kommen.

Termin

In der Reihe „Cannes Gewinnerfilme“ zeigt das Mannheimer Cinema Quadrat „Dancer in die Dark“ (2000) am Montag, 20. Mai, 19.30 Uhr.

Die Serie

Anfangs sollte Klavierspiel das Brummen der Projektoren übertönen; doch dann entdeckte man, dass Musik Geschichten nachvollziehbar machen und Gefühle wecken kann. Heute ist Filmmusik eine Kunst für sich. In der Serie „Auf der Tonspur“ erzählt unser Experte Patrick Mertens Anekdoten und Hintergründiges aus der Geschichte der Filmmusik: etwa warum sich Regisseur Spielberg mit der Musik zu „der weiße Hai“ veräppelt fühlte, die Kompositionen zu „Der Fluch der Karibik“ erst kurz vor der Premiere entstanden sind oder der Komponist Ligeti als Zuschauer von „Odyssee im Weltraum“ böse überrascht wurde. jel

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