Mannheim Die Choreographie „Radical Cheerleading“ kommt zum Festival Schwindelfrei

Szene mit Dorota Michalak (vorne links) , Erika Leo (vorne rechts) , Sunayana Shetty (hinten links) , Cary Shiu (hinten Mitte) u
Szene mit Dorota Michalak (vorne links) , Erika Leo (vorne rechts) , Sunayana Shetty (hinten links) , Cary Shiu (hinten Mitte) und Zufit Simon (hinten rechts).

Das diesjährige Mannheimer Festival Schwindelfrei stapelt in den Eröffnungstag gleich mehrere Aufführungen und Expeditionen. Zum Paukenschlag an diesem Abend holt „Radical Cheerleading“ aus, ein Tanzgastspiel aus München

Diese sportlich-nachdenkliche Choreographie von Zufit Simon gewann kürzlich den Theaterpreis des Festivals West-off in Niedersachsen, wurde 2023 für den Faust-Preis des Deutschen Bühnenvereins nominiert, reiht ein Gastspiel ans andere. Sie passt zu aufgewühlten Zeiten, in dem sie das Aufrütteln von Menschen zum Thema macht. Und das in erster Linie, buchstäblich, mit Körpern, mit Bewegung. So werden die Worte zu Rufen mit hartem Atem und Muskeln. Das passt zum Dringlichkeits-Motto des Schwindelfrei-Festivals, „Expressing the urgent“, wie die Faust aufs Auge, wenn der blöde Ausdruck einmal erlaubt ist.

Star der Freien Szene

Zufit Simon hält schon erstaunlich lange durch in der Freien Szene. Dabei steht sie grundsätzlich mit auf der Bühne in ihren Werken, auch jetzt in dem Quintett, einer für sie selten großen Formation. Ein Grund, die Israelin vorzustellen anhand eines Video-Interviews, das sie vor einigen Wochen gab.

Sie lebt in Berlin und ist verbandelt, „im Dreieck“, wie sie sagt, mit München und Braunschweig, wo sie auch probt, aufführt, Produzenten hat, Gelder akquiriert. Fünf Jahre war sie zudem am Theaterhaus Jena beschäftigt, arbeitete häufig auch als Tänzerin für andere. Die Mobilität finde sie eigentlich gut, und es helfe, dass sie keinen regelmäßigen Unterricht gibt, wie es andere in der Freien Szene tun. Doch dann kamen zwei Kinder. „Es wurde komplex“. Schon die Terminplanung mit den Tänzerinnen ist stets eine Tüftelei, da diese auch woanders tanzen (müssen). Als Mutter habe sie sich also angewöhnt, „Plan A, Plan B und Plan C“ zu machen.

Ihr Plan als Ballett-Abiturientin für die Pause nach der Schule in ihrer Heimatstadt Petach Tikwa lautete damals: mal reinschnuppern in die Ausbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, dann zurück zum Pflicht-Militärdienst. „Aus den drei Monaten wurden drei Jahre“, bis 2001, sie lacht. „Ein Kulturschock war das, ich war so schüchtern“. Sie verstand kein Deutsch. Doch die Lehrer an der Hochschule unterstützten sie, sie begann sich im zeitgenössischen Tanz heimisch zu fühlen.

Wie geht es ihr seit dem 7. Oktober als Israelin in Deutschland? Sie beobachte die Meinungs- und Begriffsverschiebungen, „Opfer, Täter“. In der S-Bahn vermeide sie Hebräisch zu sprechen. Aber sonst nicht. „Es ist meine Muttersprache, und so rede ich immer mit meinen Kindern“.

„Wir schweigen nicht“

Sie baute deshalb in „Radical Cheerleading“ den Ruf „We won’t be silent“ neu ein. Der Anlass für das lange vorbereitete Stück, mit dem sie das sportlich-fröhliche Cheerleading verfremdet, wie es schon feministische und Queer-Bewegungen mit dem 1996 erfundenen „radical cheerleading“ in den USA taten, war ihre Sorge um politische Roll-backs, gerade auch bei Frauenrechten. In den USA, Polen, Israel. „Ich muss was machen!“ Als Frau, Mutter von zwei Söhnen. Wie könnte sie protestieren? „Mein Körper ist mein Mittel“, und ihre Kunst. Ihr vorheriges Solo-Stück zur jüdischen Radikalfeministin Shulamit Firestone hatte 2021 schon deutlich politischen Impetus. Ihn vergrößerte sie nun auf fünf Personen.

Ein Team, frontal ausgerichtet. Protest im Theater spricht ja meist zu Einverstandenen. Doch knetet Zufit Simon zu wiederholten Slogan-Rufen mit zackigem Arme- und Beine-Strecken, „stand up, get up!“, andere Elemente in die Choreographie, transformiert das Gewohnte, wie es ihr Ansatz seit dem bepreisten Solo „fleischlos“ von 2004 ist. Sie verbindet und trennt Bewegung und Elektro-Beat, Stimme, Stille. Wiederholt. Was ist „power“, was ändert sich, wenn Fäuste, offene Hände oder Pompom-Puschel gereckt und geschüttelt werden? Wenn ein Teil der Kleidung entfällt, oben, unten, wenn Gesichter bedeckt werden und wieder entblößt? Wer sind „wir“, wer „ihr“?

„My body, my choice“

Sich selbst dem auszusetzen, was sie von den Tänzerinnen (seltener: Tänzern) fordert, sei ihr wichtig, sagt sie. Sie sozusagen nicht nur zu benutzen. Nur brauche sie inzwischen länger, um sich körperlich auf einen Auftritt vorzubereiten als die Jüngeren. Als die 1980 Geborene vorsichtig den Gedanken ans Aufhören anfasste und voriges Jahr Berufsberatungen aufsuchte, kam die Faust-Preis-Nominierung. Sie lächelt. Macht erstmal weiter.

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