Ludwigshafen Die „Wahnsinns-Blätter“ aus Heidelberg

Oskar Herzberg „Erklärung über Erduntergang“, entstanden um 1912.
Oskar Herzberg »Erklärung über Erduntergang«, entstanden um 1912.

„Geistesfrische“ bescheinigte Alfred Kubin den malenden und zeichnenden Anstaltsinsassen der Sammlung Prinzhorn. Ende September 1920 ließ er sich in Heidelberg Blätter von 13 Künstlern vorlegen. Der Besuch blieb nicht ohne Folgen. Zwei Jahre später wurde in Paul Westheims „Kunstblatt“ Kubins noch heute faszinierender Text zur „Irrenkunst“ veröffentlicht. Das Museum Prinzhorn hat die Begegnung jetzt nachgestellt; die Ausstellung entstand gemeinsam mit dem Landesmuseum Linz, wo sie 2013 zu sehen war.

Alfred Kubin kannte sich aus mit psychischen Krisen. Der selbst ernannte „Künstler, Grübler, Seher“ liebte den Untergang „Ich will aufgehört haben“, schrieb er 1904 an die Schwester. Fünf Jahre später erschien mit „Die andere Seite“ ein Klassiker der fantastischen Literatur. Dass Kubin mit den seelisch etwas robusteren Kollegen vom „Blauen Reiter“ ausgestellt hat, mutet in diesem Zusammenhang fast wie ein Treppenwitz an. Kubins Besuch in der Heidelberger Psychiatrie verdankte sich einem Aufenthalt im Darmstädter Sanatorium eines befreundeten Psychiaters. Der Anstaltsleiter Professor Wilmanns war so freundlich, den beiden „in liebenswürdigster Weise“ den wichtigsten Teil der Sammlung vorzulegen. Die Arbeiten von Franz Karl Bühler machten ihm den stärksten Eindruck. In den in Ölfarben und Fettkreiden gehaltenen Bildern erkannte er eine „unzweifelhaft geniale Begabung, eine außerordentliche Kraft der Erfindung in Farbe und Form.“ Angesichts von Bühlers „Engelskonzert“ verstieg sich Kubin gar zu einem Vergleich mit sienesischer Malerei: „Man fasst sich an der Kopf bei dem Gedanken, dass dies ein Irrer gemacht haben soll“. Und: „Zwischen dem Werk des Emmendingers und den anderen Sachen besteht allerdings ein großer Abstand.“ Kubin war fasziniert von den Heidelberger „Wahnsinns-Blättern“, die sich „neben den besten Expressionisten“ sehen lassen können: „Die Arbeiten ... berührten mich und meinen sehr kunstliebenden Freund gewaltig stark durch ihre geheime Gesetzmäßigkeit, wir standen vor Wundern des Künstlergeistes, die aus Tiefen jenseits alles Gedanklich-Überlegten heraufdämmern und im Schaffen und Anschauen beglücken müssen.“ Kubins Wunsch, die Schätze „dieser hervorragenden Sammlung“ in einer ständigen Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde am Ende erfüllt – allerdings und nach langen und unschönen Querelen erst im Jahr 2001. Bei aller Empathie urteilt der Besucher Alfred Kubin immer als Künstler. Die Blätter des einzigen Berufskünstlers (des schizophrenen Architekten Paul Goesch) findet er wegen seiner „unangenehmen technischen Ausbildung“ am uninteressantesten. Und er zieht erstaunliche Parallelen. In den genreartigen kleinen Gemälden des Gepäckträgers Oskar Herzberg entdeckt er Anklänge an den Freund Paul Klee, Heinrich Hermann Mebes zierliche, mit winzigen Beschriftungen versehene Malereien vergleicht er mit Philipp Otto Runge und persischen Miniaturen. Er ist angetan von den „in den duftigsten, raffiniertesten Tönen“ gehaltenen, „expressionistisch- formlosen“ Kompositionen des „ruhelosen Allesbemalers“ Viktor Orth (eigentlich Clemens Constantin Henning von Oertzen) und den Skulpturen von Karl Genzel, den er einen „gewaltigen Beherrscher des Holzstocks“ nennt: „Bei sämtlichen Arbeiten ist ganz intim auf das Material eingegangen; sie sind so sauber geschnitzt wie japanische Netsukes.“ Kubins Begeisterung ging so weit, dass er einen Bildertausch anregte. Und so geschah es, dass seine Temperaarbeit „Drohender Zusammenstoß“ nebst vier weiteren Blättern in die Heidelberger Sammlung kam, im Gegenzug erhielt der Maler-Dichter vier Zeichnungen seines Favoriten Franz Karl Bühler sowie ein Aquarell von August Klett. Auch wenn der Anteil an originalen Kubin-Arbeiten in der Heidelberger Ausstellung eher klein ist, sind mit dem Heidelberger „Zusammenstoß“ und den aus der Kubin-Hochburg Linz angereisten Arbeiten „Der wahnsinnige van Gogh (um 1910)“ und dem frappant an den frühen Baselitz erinnernden „Wasserkopf“ (um 1907) echte Perlen im Angebot. Kunst als Krisenbewältigung? Dass Kubin auch eine humoristische und ironische Seite hatte, zeigt bis 27. August das Landesmuseum Linz in seinem frisch renovierten Kubin-Kabinett. Und im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum werden bis 13. August die Einflüsse von Kubin und anderern Künstlern auf die Gegenwartskunst verfolgt. In Heidelberg freilich steht der Wahn im Mittelpunkt. Öffnungszeiten „Geistesfrische. Alfred Kubin und die Sammlung Prinzhorn“ bis 30. Juli in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, Voßstraße 2. Di-So 11-17 Uhr, Mi 11-20 Uhr.

Alfred Kubin „Der wahnsinnige van Gogh“, um 1910.
Alfred Kubin »Der wahnsinnige van Gogh«, um 1910.
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