Ludwigshafen „Künstler aus Notwehr“

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Clueso, was weiß ein Erfurter über Ludwigshafen?

Ehrlich gesagt: relativ wenig. Das Hauptproblem ist, dass man auf Tour die Locations kennenlernt und dann weiterdüst. Da bleibt wenig Zeit für die Städte. Deswegen frage ich immer nach, ob ein geiles Café in der Nähe ist, weil ich supergern Espresso trinke. Da erfährt man auch meistens etwas über die Stadtgeschichte und was so vor Ort in der Musikszene los ist. Mächtig was los war in den Vorjahren auf dem Berliner Platz, als zu den Stargästen Lena und Boss Hoss jeweils gut 10.000 Zuhörer kamen – kannst Du mit deren Musik etwas anfangen? Ich habe beide noch nie live gesehen und keine Platten von ihnen. Ich kenne sie nur aus irgendwelchen Sendungen. Von Lena kenne ich die Mucke … (denkt nach) … ja, ist jetzt nicht direkt meins. Aber ich will niemand verurteilen. Das sind alles nette Leute. Was dürfen Deine Fans erwarten? Ein komplettes Programm. Ich komme mit einer neuen Live-Band. Wir sind ganz gut warmgespielt. Diese Energie wird man auf der Bühne spüren. Da ist eine große Euphorie am Start. Natürlich wird es Stücke des neuen Albums „Neuanfang“ geben. Und wenn’s nach mir geht: Ich spiele immer gerne sehr, sehr lange. Sieben Alben, fünfmal Gold, zweimal Platin, anderthalb Jahrzehnte im Geschäft – was treibt Dich weiter an? Ich bin niemand, der sich ausruht oder zurückschaut. Ich habe immer noch diese kindliche Naivität, wenn ich im Studio bin. Ich schreibe alle Songs selbst, produziere und bastle Beats – das lässt mich nicht los. Die Musik hat mich irgendwann einmal erwischt, und ich bin immer noch auf der Suche nach dem einen Song. Vom gelernten Friseur zum gefeierten Musikstar – das klingt wie vom Tellerwäscher zum Millionär. (lacht). Der Vergleich hinkt insofern, dass es bei mir nie darum ging, Millionär zu werden, was ich auch nicht bin, sondern darum, Musik zu machen. Ich wollte immer etwas Kreatives tun. Ich bin vielleicht Künstler aus Notwehr geworden. Das war das, was ich am besten konnte. Singer/Songwriter – fühlst Du Dich damit gut getroffen? Das ist okay. Ich wüsste auch nicht, wie ich mich sonst beschreiben würde. Das fällt mir seit Jahren schwer. Ich mache alles. Ich habe auch ein Jazztrio. Singer/Songwriter trifft es am besten, weil ich eben Songs schreibe. Und wenn mir nichts einfällt, dann muss ich einfach warten – auf eine gute Connection zu irgendwas. Mich inspirieren, was lesen, herumreisen. Dann fällt mir zum Glück immer was ein. Liedermacher klingt eher bardenmäßig. Das bin ich nicht. Klingt zu sehr nach Reinhard Mey. Genau. Aber es geht bei Clueso schon um Geschichten. Googelt man Clueso, erscheinen als „ähnliche Künstler“ Max Herre, Bosse oder Jan Delay – passt das? Das sind alles Freunde von mir, das passt ganz gut. Vor allem sind das alles Musikarbeiter. „Wir sind lebendige Strophen, berühren uns wie Chopin“, heißt es in Deinem Song „Wenn du liebst“ – sehr poetisch. Fällt Dir sowas um Mitternacht bei einem Glas Rotwein ein oder haust Du das nach dem Mittagessen in einem Rutsch in die Tasten? Das fällt mir manchmal einfach so ein, etwa wenn ich nebenbei Musik höre. Da merkt man, was einen berührt. Man fragt sich: Wann hatte ich das letzte Mal Gänsehaut? Ich finde den Vergleich zur Musik ganz schön. Bei „Wenn du liebst“ wollte ich eine Ballade schreiben, bei der sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen. Nicht dieses klassische „Du bist weg und komm bitte wieder“. Denn im normalen Leben sind Beziehungen ja niemals nur einseitig. Das bringt entsprechende Probleme mit sich. Welche Musik hörst Du privat? Das ändert sich quasi monatlich. Jetzt ist es gerade die Elektromusik der Berliner Band Moderat. Aber ich mag auch die alten Kollegen wie Neil Young, Bob Dylan oder Bruce Springsteen. Oder Anderson Paak, ein Rapper und Schlagzeuger aus den USA. Zurück nach Deutschland: Du bist am 9. April 1980 auf die Welt gekommen. Hast Du eine Ahnung, welches Lied damals die deutschen Charts anführte? (lacht). In der Achtzigern, was wird da wohl vorne gewesen sein? Lass mal überlegen. Da gibt’s ja ein paar Cowboys, die da vorausgeritten sind: Grönemeyer, Westernhagen, Lindenberg. Knapp daneben: Es war „Sun of Jamaica“ von der Goombay Dance Band. Echt jetzt? (lacht). Nee, dat sacht mir nischt. Kennst Du das noch? Ja, klar. Aber ich bin ja auch zehn Jahre älter als Du und mit der „Hitparade“ musikalisch sozialisiert worden. Wenn ich das Lied höre, würde ich’s bestimmt auch erkennen, das flog einem ja um die Ohren. Wobei: Ich war in den neuen Bundesländern zu Hause. Vielleicht lief das bei uns gar nicht. Als die Mauer fiel, warst Du neun Jahre alt. Erinnerst Du Dich an die Zeit? Absolut. Auch noch an die Zeit, bevor die Mauer fiel. Etwa, als es die ersten Lecks an der ungarischen Grenze gab und das nicht mehr zu stoppen war. Überlegungen, ob man die Chance hat, einfach abzuhauen, beschäftigten die ganze Familie. Da gab es große Diskussionen, die einem als Kind nicht entgangen sind – auch darüber, was man im Fernsehen gucken darf oder was man draußen sagt, damit man keine aufs Maul kriegt. Und natürlich die ganz Ostmusik, die ist quasi in mich hineingeflossen. Wie natürlich auch Udos „Sonderzug nach Pankow“. Das waren spannende Zeiten. Und am Tag des Mauerfalls? Die, die nicht in Berlin waren, oder vorher schon nach Ungarn abgehauen sind, saßen vor der Glotze. Wie wir auch. Das weiß ich noch genau. Da habe ich sogar den einen oder anderen erkannt, wie er in die Kamera gewunken hat. Wir haben auch einen Onkel von mir gesehen mit seinem Trabi, wie er da vorgefahren ist. Fühlst Du Dich als Ossi? Eigentlich ist das ein überholter Begriff. Ich lerne so viele Menschen durch die Musik kennen, da herrscht so eine Art Esperanto, eine gemeinsame Sprache, unabhängig von der Herkunft. Egal, wo man hinkommt, hat man sofort die Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Wenn ich allerdings Leute aus dem Osten treffe, spürt man sie noch, diese Gemeinsamkeit, weil man eine ähnliche Geschichte hatte. Man hatte die gleiche Brotbüchse, den gleichen Ranzen und die gleichen Federmäppchen. Zurück in die Gegenwart: Matthias Schweighöfer taucht nach Konzerten oder Filmpremieren in die sozialen Netzwerke ab, um erste Kommentare einzufangen. Bei ihm ist das eine Art Sucht – wie ist das bei Dir? Ich mache das, wenn absolute Ruhe ist. Diesen Terror muss man sich nicht direkt nach dem Konzert geben. Wenn man aber sehr euphorisch ist und Bock oder was Neues mit der Band ausprobiert hat, dann finde ich die Möglichkeit des direkten Drahts zu den Fans irgendwie schon cool. Drei kurze Fragen zwischendurch: große Bühne oder kleiner Club? Ich brauche die Abwechslung. Ich stehe total auf die Clubatmosphäre, diese schnellen Reaktionen. Bei großen Konzerten kann ich Kollegen zeigen, was ich drauf habe, wo ich herkomme und dass es eine lange Clueso-Geschichte gibt. Und es macht Spaß, auf Festivals neue Fans zu erspielen. Wenn nach uns Marilyn Manson auftritt, stehen auch mal ganz andere Leute vor der Bühne. Das ist toll, wenn die auch bei mir abgehen. Weinschorle oder Weizenbier? Dann eher Weinschorle. Donald Trump oder Donald Duck? (lacht). Auf jeden Fall Donald Duck. Du warst kürzlich in den USA. Was hat Dich über den großen Teich geführt? Ich habe in Los Angeles ein Video gedreht. Der Song heißt „Achterbahn“. Das war sehr, sehr cool. Die haben in Kalifornien einfach jeden Tag geiles Wetter. Ich habe in den 14 Tagen viele Musiker getroffen und kennengelernt, das war sehr inspirierend. Es war aber auch sehr melancholisch, weil man viele broken Dreams – kaputte Träume – mitbekommt. Speziell in Hollywood: Jeder macht irgendwas, jeder schauspielert. Wann ist das neue Video zu sehen? Ich hoffe, in drei bis vier Wochen. Dich verbindet eine enge Freundschaft mit Udo Lindenberg. Das kann man auf jeden Fall sagen. Es ist jetzt nicht so, dass wir uns zum Kegeln treffen und gemeinsam ins Kino gehen. Wobei ich mit Udo sogar ein paar Mal schwimmen war. Er hat sich erst neulich gemeldet, weil er wusste, dass ich in L. A. bin. Er ist ja auch oft in Amerika. Er freut sich auf seine Tour. Er spielt bald in Erfurt und hat mich gefragt, ob ich vorbeikomme. Das mache ich natürlich. Ist ja klar. Am 17. Mai wird Udo 71 – was ist das für ’ne Type abseits der Bühne? Wenn ich zum Beispiel in Hamburg den Zug verpasse, fahre ich schnell rüber ins Hotel Atlantic und esse was. Dann kommt Udo runter. Und wenn er mir erzählt, was so aktuell bei ihm passiert im Leben oder vom Sport, kann es schon mal sein, dass er im voll besetzten Saal einfach ein paar Liegestütze macht. Er haut ständig einen geilen Spruch raus. Aber er ist sehr sensibel und feinsinnig, was Leute angeht. Das denkt man manchmal nicht, aber er ist ein unglaublicher Checker. Das macht total Spaß mit ihm, wenn er so befreit drauf ist in seinem Alter. Immer noch so kindlich zu sein und so lustig – von Udo können sich viele eine Scheibe abschneiden. Er hat also vieles richtig gemacht? Wenn du mit 50 so drauf bist, denken sich die Leute: Was ist denn mit dem los? Wenn man mit 70 noch so drauf ist, haut alles wieder hin. (lacht). Bring ihn doch am 24. Juni einfach mit nach Ludwigshafen. Ich kann ihn fragen, ich weiß bloß nicht, ob er Zeit hat. Jetzt kommt er am 13. Mai erst mal nach Erfurt. Und dann kutschiert ihr gemeinsam in die Vorderpfalz. An einer coolen Unterkunft sollte es nicht scheitern. Da hätte ich einen Tipp für Udo. Ich werd’s ihm ausrichten. Das ist ihm nämlich sehr wichtig. (lacht).

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