Ludwigshafen „Wir können alle aus dem Fall nur lernen“

„Das Jugendamt in Ludwigshafen hat die Verantwortung für den Jungen.“ Mit diesem Satz hatte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) am Donnerstag für Aufruhr gesorgt. Er bezog sich auf die Panne im Umgang mit dem 13-Jährigen, der 2016 auf dem Weihnachtsmarkt eine Nagelbombe platziert haben soll. Der Junge war kurzzeitig von einem Salafismus-Sympathisanten betreut worden. Wir haben am Freitagnachmittag darüber mit der Ludwigshafener Jugenddezernentin Cornelia Reifenberg (CDU, 59) gesprochen.

Frau Reifenberg, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie die Aussage der Ministerpräsidentin gehört haben?

Es hat bei mir eine gewisse Irritation ausgelöst. Auf der Fachebene arbeiten wir seit Monaten mit dem Land zusammen. Es ist eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Von daher kann ich das, was jetzt zu dem Thema gesagt wurde, nicht ganz nachvollziehen. Im Interesse des bundesweit einzigartigen Falls wäre es wichtig, wieder Ruhe in die Diskussion reinzubekommen. Die pädagogische Arbeit darf dadurch nicht gefährdet werden. Man sollte also wieder stärker auf den Jungen schauen, statt Zuständigkeiten hin- und herzuschieben? So ist es. Ich würde mir wünschen, dass die Diskussion wieder auf das Fachliche konzentriert wird. All das, was in den letzten Wochen und Monaten schon erreicht wurde – in Zusammenarbeit mit dem Jungen und der Familie – sollte nicht durch so einen Hype gefährdet werden. Wie geht es dem Jungen derzeit? Wie hat er sich entwickelt? Mit der direkten Fallarbeit bin ich nicht befasst, aber bekomme natürlich Rückmeldung. Die Arbeit in der Einrichtung scheint pädagogisch sehr gut zu gelingen. Der Junge öffnet sich, verhält sich wieder kindgerecht. Er kann wieder lachen, hat Interessen, zum Beispiel an Sport oder am Kochen. Das sind alles Zeichen für eine normalisierende, gesunde Entwicklung des 13-Jährigen. Hat die Debatte zwischen Stadt und Land um Zuständigkeiten erst am Donnerstag begonnen oder köchelte sie unterschwellig schon länger? Dass die Frage der Zuständigkeit hier sehr problematisch ist, ist bekannt. Deshalb hatten wir im Fall des 13-Jährigen von einem „Systemsprenger“ gesprochen. Er überfordert die Jugendhilfe in Hinblick auf Sicherheit. Dafür bietet die Jugendhilfe keine rechtlichen Grundlagen. Auf der anderen Seite haben wir eine Polizei, die in Fragen der Sicherheit für die Allgemeinheit Vorgaben macht, und ein Jugendstrafrecht, das nicht greift. Dafür müsste der Junge 14 Jahre alt und damit strafmündig sein. Wir sind da momentan etwas im luftleeren Raum. Zukünftig braucht es hier verbindliche rechtskreisübergreifende Regelungen. Wir können alle aus dem Fall nur lernen. Handelt es bei der Debatte nicht eher um eine parteipolitische statt um eine inhaltliche? Ich kann das nicht ausschließen. Für mich steht hier aber eindeutig unser Auftrag als Jugendhilfeträger im Vordergrund: zu schauen, dass dort qualitätvolle und pädagogische Arbeit geleistet wird. Die Stadt hat über 100 verschiedene Einrichtungen angefragt. Nur eine hat sich bereiterklärt, den 13-Jährigen zu betreuen. Hier hat sich gezeigt, dass die Bundesrepublik auf so eine Situation nicht vorbereitet ist. Es ist künftig wichtig, dass je nach Größe eines Bundeslandes etwa drei bis sechs Betreuungsplätze auch für radikalisierte Kinder vorgehalten werden. Hier in Rheinland-Pfalz sind wir jetzt seit acht Monaten an dem Fall dran und haben noch keinen nennenswerten Fortschritt. Wir haben hier als Stadt Ludwigshafen eine individuelle Lösung gestrickt. Wenn so ein Fall jedoch eine kleine Kommune mit einem kleinen Jugendamt treffen sollte, dann wäre es damit völlig überfordert. Deshalb ist meine große Bitte an die Länder, unter Einbeziehung des Bundes nach Lösungen zu suchen. Dieser bundesweit einzigartige Fall wird also kein Einzelfall bleiben? Wir haben von Fachleuten Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass es eine Zunahme bei radikalisierten Kindern geben wird. Das bedeutet natürlich nicht automatisch, dass die auch alle terrorverdächtig werden oder versuchen, eine Straftat zu begehen. Gab es seit Donnerstag schon deeskalierende Gespräche zwischen Stadt und Land? Es gab auf der Fachebene ein Gespräch. Auf der politischen Ebene ist mir keines bekannt. Südwest

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