Neustadt Bibliophile Schätze in fast jeder Ecke
Neustadt. Am Ende hat Sasha Abramsky seine Hymne auf das Bücherterritorium seines 2010 verstorbenen Großvaters Chimen Abramsky in ein Buch gegossen. Es heißt „Das Haus der zwanzigtausend Bücher“, erschien 2014 in England und 2015 im deutschsprachigen Raum und beschreibt nichts anderes als den Versuch, das „portative Vaterland“ – wie Heinrich Heine es einst für die Thora reklamierte – in einem Londoner Reihenhaus anzusiedeln. Wobei die wuchernde Bibliothek ihre eigenen Gesetze entwickelte.
Denn Chimen, als Sohn des von Stalin inhaftierten und international verehrten Rabbiners Yehezkel 1916 in Minsk geboren und 1932 nach London emigriert, Antiquariatslehrling und später Experte bei Sotheby’s, ordnete seine Bücher keinem anderen Prinzip unter als seinen eigenen Interessen. Das heißt, als Angehöriger der kommunistischen Partei Englands sammelte er zuerst „Socialistica“, nicht nur Originaldrucke wie etwa das „Kommunistische Manifest“, Flugblätter aus der Zeit der Pariser Kommune 1871 oder der russischen Oktoberrevolution 1917, sondern jede Menge Sekundärliteratur über die europäische Arbeiterbewegung. Dann aber, nachdem er von Stalin und Stalinismus kuriert war und sich seine „postkommunistische Persönlichkeit“ immer mehr verflüchtigte, wie sein Enkel es andeutet, verlagerte sich sein Schwerpunkt auf Judaica und die allgemeine jüdische Geschichte. Ohne jedes Universitätsstudium und mit einem fotografischen Gedächtnis gesegnet, wurde er bald zum Ratgeber nicht weniger Wissenschaftler aus diesem Bereich, und – nachdem er die formale akademische Qualifikation nachgeholt hatte – 1974 sogar zum Leiter des Departments für Hebräisch und Jüdische Studien am University College London ernannt. Die universitäre Umgebung machte ihn freilich nicht zum Ordnungsfanatiker, wie die Beschreibung seines 1972 geborenen Enkels deutlich macht. Sasha Ambramsky, der als freier Journalist in Kalifornien lebt und bereits als Kind die Bücherberge seines Großvaters wachsen sah, musste dem Chaos auf seine Weise Herr werden. Chimens Lebensweg rekapitulierend, durchschreitet er deshalb jedes Zimmer der in die Jahre gekommenen, durch die „Überfrachtung“ geradezu mürbe gewordenen Doppelhaushälfte im Stadtteil Highgate und folgt den Assoziationen, die ihm die Bücher „einflüstern“. Er fängt im Schlafzimmer an, wechselt dann zur Diele, von dort ins Wohnzimmer und in die Küche, wo er unter anderem Erstausgaben der Werke Spinozas aus dem 17. Jahrhundert, seltene Talmudexemplare sowie Teile aus Rosa Luxemburgs und Lenins Briefwechsel entdeckt. An allen Wänden stehen Regale, auf dem Boden wachsen Türme aus Zeitschriften und Manuskripten in die Höhe, auf Stühle kann man sich nicht etwa setzen. Und auch die Treppe nach oben ist kaum begehbar, so radikal hat Chimen jeden verfügbaren Platz seiner Bibliomanie geopfert. Chimen Abramsky als einen selbstbezogenen „Messie“ zu bezeichnen – daran lässt sein Enkel keinen Zweifel -, würde allerdings nicht den Impetus treffen, mit welchem seine Großeltern Gäste willkommen hießen und ihr Haus zu einem der ungewöhnlichsten Salons machten, der je existierte. Hier verkehrten Politiker und Politologen, Professoren aus Oxford und Cambridge gaben sich ein Stelldichein, kommunistische Gesinnungsgenossen und deren Verächter, der Historiker Eric Hobsbawm etwa oder Jacob Talmon, der berühmte Totalitarismusforscher, führten hitzige Diskussionen. Dass Sasha Abramsky das Bücherlabyrinth dann doch aufräumte und es schweren Herzens – nach Schwerpunkten geordnet – an Forschungsinstitute und Privatsammler verkaufte, ist nicht so pietätlos, wie es scheint. Man hätte rigoroser mit Chimen Abramskys Schätzen umgehen können. Aber das will man sich natürlich nicht vorstellen. Lesezeichen Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, DTV-Premium, 402 Seiten, 22,90 Euro.