Neustadt Mikrokosmos Hintergasse

Das bunte Leben in der Hintergasse schildert Usch Kiausch in der Titelgeschichte ihres Bandes.
Das bunte Leben in der Hintergasse schildert Usch Kiausch in der Titelgeschichte ihres Bandes.

«Neustadt». Dass die Neustadter Hintergasse ein unglaublich kreatives Biotop ist, hat man schon lange vermutet, aber jetzt gibt es die Bestätigung auch schwarz auf weiß: Die Autorin, Kulturjournalistin, Lektorin und Übersetzerin Usch Kiausch, die seit 1991 selbst hier lebt, hat dem Mikrokosmos in ihrem gerade erschienenen Kurzprosa-Band „Hintergasse“ mit einer „Literarischen Collage“, in der sich mancher wiedererkennen mag, ein schönes Denkmal gesetzt. Das Buch bietet aber auch noch viel mehr.

„In jener Zeit, als wir nicht alt waren und nicht jung, war die Gasse unser Mittelpunkt“, beginnt die gerade einmal 15-seitige Titelgeschichte, eine mehrteilige Hintergassen-Chronik, die Usch Kiausch als „kleine Weltbühne“ mit wechselnden Protagonisten entwickelt – wobei alle Persönlichkeiten bis auf Renate, die Wirtin der Weinstube „Backblech“, die gleichsam das Zentrum aller Aktivitäten bildet, aber mit veränderten Namen erscheinen. „Es war ein Seiltanz für mich“, lacht die Autorin, die vermutet, dass sich die Betroffenen trotzdem recht leicht wiederkennen werden. Für den Maler Amadeus, „schwarze Lederhose, grelles Hawaiihemd“, der im Hof neben der Weinstube „seine wilden Popcollagen“ aufgehängt hat, gilt das auf jeden Fall, denn er, der mit Klarnamen Wolfgang Glass heißt und auch der Grund war, warum Usch Kiausch einst nach Neustadt zog, bereichert den Sammelband auch mit seinen Bilder. Sehr anschaulich beschreibt die Ich-Erzählerin, in der man unschwer Kiausch selbst erkennen kann, in ihren kurzen, oft sehr witzigen Skizzen die „Offene Kommune“ der Hintergasse, wo man nicht erkennen kann, „wo die Kneipe endet und die Privatsphäre anfängt“ und sich auch immer wieder echte Schnorrer einnisten. Sie schildert Projekte wie den „Brainpool“, eine Art offene Vortragsreihe im „Backblech“, aus der dann irgendwann die legendären „Hofkulturen“ hervorgingen, illustre Gäste wie den britischen Science-Fiction-Autor Brian Aldiss, von dem unter anderem die Vorlage des Spielberg-Blockbusters „A.I“ stammte, aber auch viele skurrile Bewohner wie den Astronomie-Fan Hubert, der wegen des klareren Nachthimmels von Mannheim nach Neustadt zog, oder den gut gebauten Franzosen Gérard, der einen unfreiwilligen Striptease vor einer Touristengruppe hinlegt. Auch eine denkwürdige Begegnung mit einer alten Malerin – es handelt sich natürlich um Christel Abresch – wird lebendig, und an einer Stelle zitiert die Autorin auch ihren Amadeus mit dem schönen Satz, dass man nicht in Metropolen leben müsse, um Zentrum zu sein. Umgekehrt bedeuteten die vielen Anregungen aber auch, so Kiausch im Gespräch, dass sie sich längst abgewöhnt habe, sich Arbeit nach Neustadt mitzubringen. Bis heute hat sie deshalb ein Büro in Mannheim. Dort sind auch die meisten der anderen Kurzgeschichten und Essays entstanden, die im Band versammelt sind – darunter auch eine eindringliche Story mit authentischem Kern um eine Stalkerin, die sogar genau in jenem Gebäude in der Mannheimer Innenstadt spielt. Dabei ist die Vielfalt der Themen wie der Text- und Stilformen kaum zu umreißen. Den Einstieg bietet ein „Miniaturen“ überschriebenes Kapitel, das Skizzen versammelt, von denen die kürzesten gerade einmal fünf Zeilen haben. In den Kapiteln „Literarische Randnotizen“ und „Essays“ spiegeln sich die breiten literarischen Interessen Kiauschs, die als Übersetzerin mit vielen großen angloamerikanischen Schriftstellern zusammenarbeitete und über lange Jahre Autorengespräche für das Sci-Fi-Jahrbuch des Heyne-Verlags führte. Darunter ist unter anderem ein Text über die Kanadierin Margaret Atwood und einer über den von Kiausch bewunderten Uwe Johnson. Im „Reise-Zyklus“ wiederum verarbeitet sie Erfahrungen der Reisen, die sie während des Studiums in Italien und später vor allem in den USA unternahm, die sie als ihre zweite Heimat bezeichnet. „Nachtfahrt“ beruht dabei auf einem authentischen Erlebnis, einem Raubüberfall in einem Zug im winterlichen Italien in den 70ern. Die meisten der längeren Kurzgeschichten aber sind in den beiden Kapiteln „Frühe Geschichten“ und „Geschichten aus der Jetztzeit“ zusammengefasst, deren Titel auch jeweils auf die Entstehungszeit hinweisen. Auch sie behandeln ganz unterschiedliche Themen, zeugen aber alle von der Stilsicherheit und Erfahrung der Autorin, die ihre ersten Geschichten schon als Sechsjährige in ihrer norddeutschen Heimat am Jadebusen schrieb. „Wellenlinien“ zum Beispiel schildert die schwierige Begegnung mit einem mehrfach behinderten Mädchen, „Schildmanns Universum“ ist die Erinnerung eines erfolgreichen Physikers an seinen alten Physik-Lehrer, der sich einst aus purer Not für das Lehramt und gegen die Forschung entschied, und eine „Zeile von Stevenson“, die jüngste und eine der längsten Geschichten des Buches, führt nach Hawaii und verbindet die Geschichte der letzten Prinzessin der Insel mit Szenen, die die schwierige Situation der Ureinwohner heute in den Blick nehmen. Betrachtet man gerade den geschickten, multiperspektivischen Aufbau dieser letzten Geschichte, kann man sich nur wundern, dass Kiausch, die schon 1984 ihre erste Sci-Fi-Kurzgeschichte in einem Sammelband veröffentlichte, mit „Hintergasse und andere Kurzprosa“ erst jetzt ihr erstes eigenes literarisches Buch veröffentlichte. „Es fehlte immer die Zeit“, sagt sie, bekennt aber auch, dass noch etliche Romanentwürfe in der Schublade liegen. Vielleicht wäre es jetzt Zeit, sie herauszuholen. Lesezeichen/Termine Usch Kiausch: Hintergasse und andere Kurzprosa. Geschichten, literarische Notizen und Essays mit Bildern von Wolfgang Glass. Gareis Marketing Media, Paperback, 228 Seiten, 18 Euro. Auszüge aus dem Buch stellt die Autorin erstmals am Sonntag, 6. Mai, um 11.30 Uhr und 14 Uhr bei zwei Kurzlesungen während des Kulturfests „For Your Eyes Only“ in der Villa Böhm vor. Die offizielle Premieren-Lesung gibt es am Freitag, 11. Mai, ab 19 Uhr im heimischen Hof in der Hintergasse 18 in Neustadt. Der Eintritt ist frei.

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