Interview Seelische Ersthelfer: „Wir wollen den Leuten Mut machen“

Am Limit: Geht es Arbeitskollegen offenbar nicht gut, kann ein seelischer Ersthelfer dazu motivieren, sich Hilfe zu holen.
Am Limit: Geht es Arbeitskollegen offenbar nicht gut, kann ein seelischer Ersthelfer dazu motivieren, sich Hilfe zu holen.

Was tun, wenn es jemandem aus dem privaten oder beruflichen Umfeld psychisch merklich schlecht geht? Seelische Ersthelfer sollen in solchen Fällen weiterhelfen. Ausgebildet werden sie in Neustadt von Psychologin Birgit Stetter, die im Gespräch mit Stefanie Brunner erklärt, warum deren Aufgabe immer wichtiger wird.

Frau Stetter, wer einen Führerschein hat, hat auch schon mal einen Erste-Hilfe-Kurs besucht. Da geht es aber mehr um Gefahren für Leib und Leben. Warum braucht es für die Seele Ersthelfer?
Auch seelisch gibt es Notfälle, denken Sie etwa an Suizidalität. Der seelische Ersthelfer nach dem Konzept Mental Health First Aid (MHFA) spricht Betroffene in den meisten Fällen viel früher an, kann Krisen erkennen und Suizid vielleicht verhindern. Es bedeutet, dass ich mich traue, jemanden anzusprechen, wenn ich den Eindruck habe, der Person geht es nicht gut – und es gibt immer mehr Menschen, die solche Hilfen brauchen. Dafür gibt es viele Gründe, hier nur zwei Beispiele: Menschen müssen mobiler sein, die Familien wohnen nicht mehr zwingend im direkten Umfeld, sodass soziale Unterstützung wegfällt. Oder: Die Pandemie hat Einsamkeitsgefühle gerade bei jungen Leuten noch verstärkt. Das Bewusstsein für psychische Nöte ist gleichzeitig gestiegen. Trotzdem sind psychische Erkrankungen weiter stigmatisiert: Ich kann zu jedem sagen, ich habe morgen einen Arzttermin – einen Termin beim Psychiater oder Psychologen behalten die meisten aber lieber für sich. Bei körperlichen Erkrankungen gibt es Verständnis und Mitgefühl. Bei psychischen Problemen wird immer noch unterstellt, dass die Betroffenen selbst schuld wären. Daran wollen wir arbeiten, dass es gesellschaftlich legitim ist, sich bei psychischen Problemen Hilfe zu holen. Das frühe Eingreifen ist mir ein persönliches Anliegen, hier kann man so viel Leid vermeiden.

Ab wann ist jemand seelisch in Not?
Wenn ich anfange, mir Sorgen um jemanden zu machen, kann ich prinzipiell nichts falsch machen, wenn ich ihn anspreche. Im Gespräch kann ich dann erfahren, ob jemand vielleicht einfach einen Tiefpunkt hat, wie ihn jeder mal erlebt, oder ob mehr dahintersteckt. Nichts zu tun, hilft nicht weiter.

Wo kommen die seelischen Ersthelfer zum Einsatz?
Der Ersthelfer kommt in erster Linie zum Einsatz, wenn er oder sie merkt, der psychische Zustand von jemandem im privaten oder beruflichen Umfeld verschlechtert sich. Wenn Führungskräften zum Beispiel auffällt, dass ein Mitarbeiter sich verändert, dass er nicht mehr so arbeitet oder sich nicht mehr so verhält, wie er ihn kennt. Auch überall da, wo man viel mit jungen Leuten zu tun hat – eine wichtige Zielgruppe beim Thema psychische Gesundheit. Akutsituationen, zum Beispiel Suizidgedanken, Panikattacken oder Sucht, kommen seltener vor, aber auch hier lernt der Ersthelfer, wie er reagieren und handeln kann.

Wer kann sich zum seelischen Ersthelfer ausbilden lassen?
Beim Kurs können sich alle ab 18 Jahren anmelden, die Interesse haben. Einziges Ausschlusskriterium: Wenn jemand akut selbst belastet ist, denn der Kurs zielt nicht darauf ab, sich selbst zu helfen. Einige kennen im privaten Umfeld Menschen, bei denen sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Andere wollen sich auch einfach dem Thema öffnen und informiert sein, falls so ein Fall eintritt. Auch in Unternehmen ist das Interesse groß, denn die Krankheitsfälle wegen psychischer Erkrankungen nehmen zu, und meist sind diese Mitarbeiter auch vergleichsweise lange krank.

Wie werden die seelischen Ersthelfer auf ihren Einsatz vorbereitet?
Der Kurs ist nach den Großgruppen der psychischen Erkrankungen in vier Teile aufgeteilt: depressive Erkrankungen, Angststörungen, Abhängigkeiten und Psychosen. Wir erklären, wie man die frühen Symptome erkennt – bei Depressionen zum Beispiel am sozialen Rückzug, wenn der sonst so gesellige Kollege zum Beispiel nicht mehr mit zum Mittagessen kommt. Und wir geben konkrete Tipps, wie man so eine Situation einschätzen kann. Wir wollen den Leuten Mut machen, auf Betroffene zuzugehen – denn viele trauen sich das erst mal nicht.

So eine Ansprache verlangt Fingerspitzengefühl. Wie entwickelt man das, und was, wenn der Angesprochene ablehnend auf das Hilfsangebot reagiert?
Wir haben einen Leitfaden, wie man die Menschen ansprechen kann, was man sagen kann, wo es weitere Hilfen gibt – aber auch, wie man damit umgeht, wenn ein Betroffener den Ersthelfer abblockt. Man kann ja niemanden zwingen, Hilfe anzunehmen, aber deutlich machen: Ich bin jederzeit für dich da, denke noch mal darüber nach und komme gerne auf mich zu, wenn du Hilfe möchtest. Eine wichtige Botschaft für uns ist, dass der Ersthelfer nicht für alles verantwortlich ist und auch Verantwortung abgeben darf. Der Ersthelfer heilt nicht die Erkrankung, sondern ermutigt, sich Hilfe zu holen.

Unterliegt er dabei der Schweigepflicht?
Wir reden unter Ersthelfern von Vertraulichkeit. Man muss unterscheiden, ob es ein Notfall ist: Wenn jemand sein Leben und das anderer gefährdet, bin ich von der Schweigepflicht entbunden. Also wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter im Außendienst einen Dienstwagen fährt und offenbar zu viel trinkt, muss gehandelt werden. Die Details der Hintergründe behandeln wir vertraulich.

Wo liegen Grenzen, an denen sich die Ersthelfer auch selbst schützen müssen?
Wenn ich belastende Gespräche hatte, ist es wichtig, dass ich bewusst für mich sorge und mir gegebenenfalls selbst Hilfe suche, falls mich die Situation zu sehr belastet. Abgrenzung passiert auch, indem ich Verantwortung wieder abgebe, weil ich das selbst nicht leisten kann. Ein Ersthelfer kann und darf keine Diagnose stellen und auch keine Therapie bieten. Er kann sagen, dass er sich Sorgen macht, und die betroffene Person motivieren, sich Hilfe zu holen, und wenn es erst mal nur ein Gespräch mit dem Hausarzt ist.

Gibt es eine Abschlussprüfung?
Ja, im Nachgang an den zweitägigen Kurs findet eine kleine Online-Prüfung statt. Wer sie besteht, bekommt ein MHFA-Zertifikat, das weltweit anerkannt wird. Das Projekt MHFA kommt ursprünglich aus Australien und ist mittlerweile in viele Länder übernommen worden.

Zur Person

Birgit Stetter (60) ist Diplom-Psychologin aus Neustadt und zertifiziert für Gesundheits- und Präventionspsychologie. Neben den Kursen für Mental Health First Aid (MHFA) ist sie unter anderem auch an Schulen präsent. Zudem bietet sie unter dem Titel „Erste Hilfe für die Seele – Beratung für Lebensbewältigung“ eine Beratung für Menschen an, die noch nicht psychisch erkrankt sind, aber nicht mehr allein aus der Krise kommen.

Info

MHFA Ersthelfer-Kurs am Donnerstag und Freitag, 13. und 14. Juni sowie 14. und 15. November, jeweils 9 bis 12 und 13 bis 16 Uhr (mit Mittagspause), im Casimirianum. Kosten pro Person: 229 Euro. Anmeldung erforderlich über das Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI) Mannheim unter www.mhfa-ersthelfer.de/de/ersthelfer/kurs/praesenz/?city=Neustadt#courses

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Birgit Stetter
Birgit Stetter
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