Neustadt Servus
Ein Leben ohne Terminkalender. Endlich Freiheit, endlich selbstbestimmt sein, endlich kein Wecker mehr, der zu menschenverachtenden Zeiten bimmelt. Die meisten freuen sich ja auf den Ruhestand. Aber was bedeutet er für diese Frau, die für ihr Amt als Landrätin der Südlichen Weinstraße fast Tag und Nacht gelebt hat? Und jetzt soll einfach Schluss sein, nach 20 Jahren? Ein Vormittag Ende August auf dem Parkplatz am Fuß der Madenburg. Theresia Riedmaier, 65, hat für dieses Porträt ihre Wanderschuhe geschnürt. Lippenstift, Bauchtasche, Outdoor-Rock – sie ist, wie immer, akkurat. So akkurat wie ihr Büro im Kreishaus, das jederzeit als Ausstellungsraum für ein Möbelhaus herhalten könnte. Ausnahmsweise ist aber mal nicht alles perfekt. „Ich habe leider meine Wanderkarte vergessen“, sagt sie. Kein Problem. Die Frau hat ein fabelhaftes Gedächtnis. „Wir gehen über den Cramerpfad, dann kommen wir zu einer Kreuzung, über die wir zurück zum Parkplatz laufen.“ Riedmaier geht voraus, wie sollte es auch anders sein. Wer so lange führt, kann irgendwann nicht mehr anders. Riedmaier hat sich ihre Stellung im Landkreis hart erarbeitet. Keine Strecke war ihr zu weit, kein Gespräch zu viel, kein Thema zu klein, um die Südliche Weinstraße voranzubringen. Ein Beispiel für ihre Arbeit ist die Weinwerbung. Die hatte vor ihrem Amtsantritt Rost angesetzt, Riedmaier hat ihr mit einer Marketingoffensive eine Politur verpasst. Der Verein Südliche Weinstraße hat heute ein modernes und junges Gesicht. Auch die feinsinnigen Dinge waren ihr immer wichtig, etwa die Kunstausstellungen im Kreishaus oder die Kulturtage. Das Kreisjugendorchester hat sie trotz knapper Kassen vor der Auflösung verschont. Und sie hat, das ist vielleicht ein besonders auffälliger Punkt, eine andere Sprache in den Landkreis gebracht. Während man manchmal den Grußworten einiger Kommunalpolitiker lieber einen Zahnarzttermin vorziehen würde, sind Riedmaiers Reden immer kurzweilig, politisch, pointiert, auch, weil sie sich akribisch vorbereitet. Diese Karriere hätte ihr aber wohl keiner prophezeit. Theresia Riedmaier wird am 20. Juli 1952 in die kleine Welt von Oberappersdorf hineingeboren, ein Örtchen im Landkreis Freising, Oberbayern. Sie wächst zwischen Hühnern, Gänsen und Kühen auf, ihre Eltern besitzen einen kleinen Bauernhof. Nach der Schule geht es für sie aufs Feld, etwa, um Rüben zu ernten. Riedmaier kann sich noch gut erinnern, wie oft ihr Vater in der Erntezeit mit Angst in den Augen zum Himmel geschaut hat. Ein Hagelschauer, und alles wäre verloren gewesen. Auf dem Hof wohnt sie nicht nur mit den Eltern und ihren vier jüngeren Brüdern, sondern auch mit Onkel und Tante. Er ist taub und blind, sie taub und stumm. Sie lernt früh, dass Behinderte keine bemitleidenswerten Geschöpfe sind, sondern Menschen, die etwas zur Gesellschaft beitragen können, wenn man ihnen hilft. Dass sie sich als Landrätin so leidenschaftlich für die Südpfalzwerkstatt der Lebenshilfe einsetzen wird, gründet in dieser Erfahrung. Riedmaier ist eine gute Schülerin. Ihre Mutter schickt sie 1964 auf eine Realschule in die nächste Stadt, Moosburg. Damals nicht der Normalfall, die meisten absolvieren nach der Volksschule eine Lehre. „Meine Mutter hat uns immer vermittelt, dass man etwas aus sich machen kann, deshalb war ihr Bildung so wichtig“, sagt Riedmaier. Im Dorf muss sich die Mutter aber von anderen anhören, ob sie denke, ihre Tochter sei etwas Besseres. Doch die Familie lässt sich nicht beirren. Und der Gang nach Moosburg eröffnet Riedmaier eine neue Welt abseits von Weiden und Weihrauch in Oberappersdorf. Sie interessiert sich für Politik. Eine junge Lehrerin, die in München wohnt, bringt ihr die Zeitung nahe, auch den „Spiegel“. Sie und ihre Mitschüler halten Referate, etwa über den Schah-Besuch 1967 in Berlin, als der Student Benno Ohnesorg erschossen wird. „Ich weiß noch, dass ich damals vorm Fernseher saß“, sagt sie. Es sind wilde Zeiten. Nach der Mittleren Reife wird sie Bankangestellte in Freising, macht das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Tagsüber arbeitet sie, abends studiert die junge Frau an der Hochschule für Politik in München. Willy Brandt ist damals Kanzler, ein Mann, den viele als Messias empfinden, weil er sich in der Nazizeit instinktiv für die richtige Seite entschieden hat. Auch Riedmaier will mehr Demokratie wagen, sich engagieren, sich einmischen, „weil ich nicht wollte, dass andere über mich bestimmen“. Sie findet Gleichgesinnte im Café Fraunhofer in Freising, wo sich die Jusos treffen. Man ist sehr links. Als sie in die SPD eintritt, Stadträtin in Freising wird, ist ihre Familie nicht begeistert. In Bayern regiert eine CSU, deren Herrschaft von Gottes Gnaden verliehen zu sein scheint und für die Sozialdemokraten auf derselben Ebene rangieren wie Leute, die sich beim Gottesdienst an der Kollekte bedienen. Riedmaiers Vater, Jahrgang 1917, ehemaliger Wehrmachtssoldat an der Ostfront, ein schweigsamer Mann, sagt zu ihr, dass man nicht in eine Partei gehe. Er hat nicht vergessen, was die so alles anstellen können. Diese Entfremdung bleibt lange. Als Riedmaier 1991 für den rheinland-pfälzischen Landtag kandidiert, will die Mutter ein Wahlplakat von der Tochter. Als Theresia Riedmaier später daheim in Bayern zu Besuch ist, hängt ihr Plakat an der Küchentür. Nur das Logo der SPD hat ihre Mutter mit der Schere abgeschnitten. „Aber sie war sehr stolz auf mich“, sagt sie. Die Liebe führt sie Anfang der 1980er-Jahre in die Pfalz, nach Landau. Schnell fühlt sie sich heimisch. „Die Leute hier sind herzlich, man trifft sich und kommt ins Gespräch“, sagt Riedmaier. Sie bewirbt sich für die Stelle der Chefsekretärin beim Meininger Verlag in Neustadt und bekommt den Job. 1986 wird die bekennende Feministin Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Karlsruhe, 1989, kurz vor dem Mauerfall, Senatsreferentin bei der Landesvertretung Berlin in der damaligen Hauptstadt Bonn. Riedmaier möchte jedoch nicht dauernd zwischen Landau, Berlin und Bonn pendeln und entschließt sich, für den Landtag zu kandidieren. 1991 besiegt sie CDU-Platzhirsch Dieter Hörner im Wahlkreis 50, zu dem die Stadt Landau sowie Teile der beiden Landkreise Südliche Weinstraße und Germersheim gehören. „Das war völlig überraschend – als Frau, Sozialdemokratin und Bayerin“, sagt Riedmaier. Sie kommt in die Ausschüsse für Frauen-, Hochschul- und Medienpolitik. 1996 wird sie stellvertretende Fraktionschefin. Riedmaier hat sich fest in Mainz etabliert, als 1997 Gerhard Weber, der damalige CDU-Landrat an der Südlichen Weinstraße, bei einem Unfall stirbt. Der Kreis steht unter Schock. Kurt Beck ruft Riedmaier in die Staatskanzlei und sagt: „Du musst kandidieren.“ Sie lässt sich in die Pflicht nehmen. „Ich habe die Erwartung gespürt und fand die Aufgabe interessant.“ Die Chance, dass eine Sozialdemokratin die Südliche Weinstraße gewinnt, ist damals so wahrscheinlich wie heute der Aufstieg des FCK in die erste Liga. Der Kreis scheint von den „Schwarzen“ gepachtet zu sein. „Ich wusste, dass ich alles geben muss“, sagt Riedmaier. Aber an einen Sieg glaubt sie nicht. Sie stürzt sich dennoch mit aller Kraft in den Wahlkampf, erstmals wird in Rheinland-Pfalz ein Landrat direkt gewählt. Die CDU fährt eine knallharte Kampagne, weist darauf hin, dass Riedmaier damals in Trennung von ihrem Mann lebt. Die Botschaft lautet: Aufpassen vor der roten Resi, die hat noch nicht mal ihr eigenes Leben im Griff. „Damit hatte ich nicht gerechnet“, sagt Riedmaier. Am Wahlabend sitzt sie mit Freunden im Garten, sie denkt: Hauptsache, ich kann erhobenen Hauptes gehen. Dann ruft einer: „Du bist gewählt.“ Als sie später in die Kreisverwaltung kommt, herrscht ein riesiger Trubel, viele gratulieren ihr. Und sie denkt: „Oh Gott, diese Verantwortung.“ Die Landrätin ist inzwischen auf der Madenburg angekommen, es gibt Traubensaftschorle und Flammkuchen. Sie setzt sich an eine Biertischgarnitur, hinter ihr die Südliche Weinstraße, ihre Südliche Weinstraße. 20 Jahre hat sie den Kreis geführt, Akten gewälzt, die gestapelt wahrscheinlich so hoch wären wie die Kleine Kalmit. Sie hat Menschen für ihr Engagement geehrt, Bauvorhaben geprüft, Kreistagssitzungen geleitet, gekämpft, etwa für die Fusion der Kreiskrankenhäuser, auf die sie auch sehr stolz ist. Aber was bleibt von einem Leben, das kaum Wohnzimmer, sondern meist nur das Büro kennt? „Ich habe auch Freundschaften verloren“, sagt sie, „aber auch welche gewonnen.“ Wer seinen Körper ausbeutet wie eine Goldmine, muss irgendwann bezahlen. Ein Freitagnachmittag im Jahr 2006. Riedmaier sitzt in ihrem Büro, es war ein stressiger Tag. Schon die Tage zuvor war sie nur unterwegs. Auf einmal spürt sie ihr rechtes Bein nicht mehr, als sie aufstehen möchte, knickt sie weg. Eigentlich muss sie noch zu einer Ehrung nach Gräfenhausen, sie verdrängt ihre Angst. Als sie ihre Rede im Wagen schreiben möchte, gehorcht ihr die linke Hand nicht mehr. Bei der Laudatio bringt sie auf der Bühne nur mühsam Worte über ihre Lippen. Daheim läuft sie gegen einen Türrahmen, sie kann den Abstand nicht mehr einschätzen. Ihr Lebensgefährte Volker Krebs ist besorgt, sagt: „Da stimmt was nicht.“ Er fährt sie ins Krankenhaus. Als eine Schwester auf sie zukommt und Riedmaier die Angst in ihren Augen sieht, weiß sie: Das ist gar nicht gut. Ein Arzt sagt ihr wenige Minuten später: „Es ist vermutlich ein Schlaganfall.“ Riedmaier erholt sich, aber sie kann nicht einfach so weitermachen wie bisher, sonst bringt der Job sie um. Sie hört mit dem Rauchen auf, kauft sich einen Crosstrainer, auf den sie jeden Morgen um 5.30 Uhr steigt. Es ist vielleicht das Erstaunliche an dieser Frau, aber auch das, was einen manchmal zittern lässt: diese eiserne Disziplin. „Ich kann dieses Amt nicht mit angezogener Handbremse machen, ich muss rigoros zu mir selbst sein. Das habe ich mir oft gesagt, wenn ich kraftlos war“, erzählt sie. Natürlich weiß Riedmaier, was die Gründe für den Raubbau an ihrer Gesundheit sind. Sie könne nicht gut delegieren. Am liebsten macht sie alles selbst, und das am besten auf einmal. Fehlt ihr das Vertrauen in andere? „Nein“, sagt sie, „aber ich kann schlecht loslassen.“ Mitarbeiter erzählen, dass Riedmaier zu Weihnachten alle Grußkarten per Hand unterzeichnet, egal, wie lange es dauert. „Ich will es perfekt machen.“ Aber alles hat seine Grenzen. Spätjahr 2016. Weil sie nicht von ihrem Anspruch lassen kann, zeigen sich wieder Warnzeichen, die auf einen baldigen Schlaganfall hindeuten. Sie hat Schlafstörungen, Sehschwächen, Herzrasen – der Stress. Zwischen den Feiertagen sitzt sie in ihrem Haus in Landau. Es ist eine Zeit, in der viele Menschen über sich und ihr Leben nachdenken. Und Riedmaier sagt zu sich: „Ungestraft kommst du nicht noch mal davon, du hattest schon mal Glück.“ Dann trifft sie die Entscheidung zurückzutreten. Zuerst informiert sie enge Freunde, dann Mitarbeiter und schließlich die Öffentlichkeit. Es ist ein schwerer Tag für sie, dieser 17. Januar, sie hätte gerne weitergemacht. Aber vielleicht ist dieser 17. Januar auch ein Tag der Befreiung. Wie möchte sie in Erinnerung bleiben? Riedmaier lächelt. Sie wünscht sich ja schon, dass die Menschen das Gefühl haben, der Kreis habe eine innere und äußere Stärke, und ein gutes Image. „Und wissen Sie“, sagt sie zum Ende des Gesprächs auf der Madenburg, „die Südliche Weinstraße und ihre Menschen sind etwas ganz Besonderes.“ Viele in der Region denken vermutlich dasselbe über Theresia Riedmaier. Heute ist ihr letzter Arbeitstag.