Neustadt Und der Zug war weg

In der Silvesternacht auf einem Bahnhof im Nirgendwo gestrandet, unterhalten sich Hedda Brockmeyer (links) und Andrea C. Baur mi
In der Silvesternacht auf einem Bahnhof im Nirgendwo gestrandet, unterhalten sich Hedda Brockmeyer (links) und Andrea C. Baur mit Literatur und Musik – man kann es wirklich schlechter treffen.

«Neustadt-Mussbach.» Zu einem außergewöhnlichen Neujahrskonzert hatte am ersten Tag des neuen Jahres die Neustadter Stiftskantorei in die Parkvilla des Mußbacher Herrenhofs eingeladen. Hedda Brockmeyer, Schauspielerin und künstlerische Leiterin des „Theaters in der Kurve“ in Hambach, und die Lautenistin Andrea Cordula Baur aus Haardt begeisterten als „Duo Wunder-Barock“ mit ihrem neuen Programm „5 nach 12 – Szenen einer Silvesternacht“.

Die zahlreichen Zuschauer wohnen an diesem Nachmittag einer gelungenen Premiere bei. Die Texte und die Musik sind zwar nicht neu, Brockmeyer und Baur aber haben sie in eine kleine Geschichte verpackt, die sie sehr lebensecht darstellen. Zumal sie sich überall zutragen könnte, auch auf dem imaginären Bahnhof, der in der Parkvilla aus einer einsamen Holzbank besteht. Auf diese Bank setzt sich eine Frau (Hedda Brockmeyer) und spricht die schicksalsschweren Worte: „Er war weg.“ Sie spielt mit den Wörtern, ändert durch Satzstellung und Betonung den Sinn, bis sie verdeutlicht, wer das „Wer“ ist: „Der Zug war weg.“ Und während sie diesen Satz, im Rhythmus einer Dampflok immer schneller werdend, wiederholt, schnauft eine zweite Frau (Andrea Baur) auf die Bank zu, beladen mit Instrumentenkoffern. Beide sind Künstlerinnen, haben nach einer Silvesterveranstaltung den Zug verpasst und nun eine lange Nacht auf dem Bahnhof vor sich. Sie vertreiben sich die Zeit damit, einander ihre Kunst vorzustellen. Die Schauspielerin liest der Lautenistin zunächst Bertolt Brechts Weihnachtsgedicht „Maria“ vor. Die Lautenistin intoniert dazu stilgerecht „Stille Nacht.“ „Ihre Musik wärmt“, sagt die eine, „Ihr Gedicht wärmt auch“, die andere. Es folgen bekannte und weniger bekannte Gedichte, dazwischen Musik für die Laute, darunter auch ein zauberhaft anmutender barocker Schreittanz. „Sehr schön“, lobt die Schauspielerin. Das findet auch das Publikum und spendet kräftigen Applaus. Die Musikerin öffnet einen weiteren Koffer und holt die Barockgitarre hervor. Die lässt sich zupfen und schlagen – „Klingt fast wie Urlaub in Spanien“, findet die Schauspielerin und unterstützt beim folgenden Stück, indem sie einen gleichbleibenden Grundton summt, der die Musik nach Dudelsack klingen lässt. Die Lautenistin revanchiert sich, indem sie die „Durchwachte Nacht“ von Annette von Droste-Hülshoff musikalisch begleitet. So beginnen die Frauen, sich in ihrer Kunst zu ergänzen. Es wird Mitternacht, Zeit miteinander anzustoßen und sich endlich beim Namen zu nennen. Zwölfmal schlägt aus den Tiefen des Saals eine Glocke, ein Fagott spielt Händels Feuerwerksmusik. Baur setzt mit der Laute ein, Brockmeyer spricht als Gedicht für die Mitternacht „Der Zwölf-Elf“ von Christian Morgenstern, eine wunderbare Überleitung zum „Jabberwocky“, den als Überraschungsgast die Fagottistin Jennifer Harris vorträgt; ein Nonsens-Gedicht von Lewis Carroll aus seinem Buch „Alice hinter den Spiegeln“. Schon das englische Original mit seinen Wortneuschöpfungen ist logisch kaum zu fassen. Auch die deutsche Version lässt der Fantasie viel Raum. Synchron in beiden Sprachen rezitiert, wird das „Jabberwocky“ nicht verständlicher. Doch in dem Maße, in dem die Suche nach dem Sinn aufhört, offenbart sich die Schönheit des Klangs und des Sprachrhythmus. Nach der Pause wird der „Unsinn“ fortgeführt, die Frauen spielen Puppentheater mit Fundsachen wie Pelzstolen, sie dichten alte Schlager um, improvisieren mit Gesang und Theorbe, der Laute mit dem langen Hals, im Stil Joy Flemings zum Thema „Er ist weg“ und präsentieren unter anderem einen nicht ganz ernstzunehmenden Vorschlag für den nächsten Eurovision Song Contest. Da kündigt sich der Zug an. Der Zauber hat ein Ende. Die Frauen raffen ihre Siebensachen zusammen und verschwinden unter sehr viel Beifall. Zu wünschen ist, dass der Abend kein Einmal-Erlebnis bleibt. Das Programm sei zwar als „Auftragsarbeit“ auf Wunsch Simon Reicherts, des künstlerischen Leiters der Stiftskantorei, entstanden, sagt Hedda Brockmeyer. „Es lässt sich aber saisonal anpassen“. Und würde sich mit wenigen Änderungen sicher auch für einen lauen Sommerabend im Park eignen.

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