Panorama Norwegische Tradition: Exzessives Feiern von Abiturienten

Mit einem eigenen Partybus sind die Schüler oft unterwegs.
Mit einem eigenen Partybus sind die Schüler oft unterwegs.

«Oslo.» Bis zu 28 Tage und Nächte am Stück feiern, tanzen und trinken über 40.000 norwegische Abiturienten traditionell in Partybussen. Und das vor den Prüfungen. Weil immer mehr Schüler betrunken im Unterricht erscheinen, hat Ministerpräsidentin Erna Solberg erstmals zu Mäßigung aufgerufen.

In keinem Land der Welt feiern Abiturienten ihren Abschluss so ausgiebig wie in Norwegen. Die wochenlangen sogenannten Russefeiern erreichen ihren Höhepunkt am Nationalfeiertag am 17. Mai. Der Haken dabei ist, dass die Schüler ihr Abi noch gar nicht in der Tasche haben. In den Wochen nach dem Endlosbesäufnis folgen die vier großen Abschlussprüfungen. Auch während der Russezeit müssen die von Dauerkater Geplagten tagsüber in die Schule. Weil in diesen Wochen gern geschwänzt wird, wurde eine Maximalgrenze für Fehltage eingeführt. Viele Abiturienten kommen nun lieber stark betrunken in die Schule, anstatt auszuschlafen. „Vielleicht fange ich an alt zu werden, aber ich hoffe, dass neben mir auch andere reagieren. Die Russezeit ist spaßig, aber die Schule ist wichtig, und wenn am nächsten Tag Schule ist, sollte man das Feiern begrenzen“, rügte nun Ministerpräsidentin Erna Solberg auf Facebook. Das ist ungewöhnlich. Denn das jährliche Ausflippen ist so tief verwurzelt im Land, dass es von der Gesellschaft akzeptiert und teils massiv gefördert wird. Viele Unternehmen machen damit ihre Geschäfte. In Norwegen machen fast alle Schüler Abitur. Jung und alt erinnern sich gern an ihre verrückte Russezeit. Das Wort wurde im 18. Jahrhundert geprägt. Nach der Abschlussprüfung wurde Abiturienten bis zur Bekanntgabe der Resultate ein Horn an die Stirn gebunden. In dieser Zeit durften sie gehänselt werden. Nachdem sie bestanden hatten, wurde ihnen das Horn abgenommen – als Zeichen dafür, dass das „wilde Tier“ in ihnen nun verschwunden war. Das Wort soll dabei eine Verkürzung sein der lateinischen Wendung von „sich die Hörner abstoßen“: cornua depositurus. Die Feiern wurden allerdings immer länger und exzessiver. „In den 60ern feierten die Abiturienten nur ein paar Tage um den Nationalfeiertag herum. Jetzt sind es Wochen. Ich gönne ihnen das ja, aber es ist bedenklich und traurig, wenn einige Schüler jeden Tag trinken. Die spielen mit dem Feuer, bezüglich ihrer Abinote“, sagt Christiane Nökling, Deutschlehrerin am Osloer Handelsgymnasium. In der Tat seien einige Schüler sehr unausgeschlafen und hätten im Unterricht eine Fahne. „Aber bei Weitem nicht alle Schüler übertreiben es“, sagt die 67-jährige Lehrerin. Die 19-jährige Ruth Jakobsen hat sich schon vor einem Jahr mit 20 Mitschülerinnen des Handelsgymnasiums zusammengetan, um einen Partybus mit eigener Disco zu kaufen und einen Chauffeur zu organisieren, der natürlich nüchtern bleiben muss. Oft haben Mädchen und Jungs getrennte Partybusse. Man trifft sich dann irgendwo in der Stadt oder auf einem der beiden riesigen Russefestivals in Stavanger oder Oslo. Die Schüler malen gemeinsam den Bus an, richten ihn gemütlich ein und planen ihre Touren. „Am schönsten ist es, dass man in einer Gemeinschaft zusammenwächst und Freunde fürs Leben findet. Und in der Feierzeit selbst lernt man so viele neue Leute kennen“, sagt Ruth. Sie und ihre Freundinnen mussten jeweils umgerechnet 4000 Euro für den Buskauf aufbringen. Teils sponsern Firmen die Aktion mit Werbebanner, was wiederum zu Kritik an einer Kommerzialisierung der Jugendkultur führt. Die Geldbeutel der Eltern spielen beim Standard der Partyfahrzeuge auch eine Rolle. Die großen Gefährte mit Fahrer sind vor allem in wohlhabenden Großstädten üblich. Sie holen jeden Abend gegen 23 Uhr die Abiturienten zu Hause ab. Früh morgens werden sie wieder abgeliefert. „Wir feiern ungefähr jeden zweiten Tag in den Partywochen, oft bis zum frühen Morgen. Bis zur ersten Schulstunde hat man dann manchmal nur eine Stunde Schlaf“, räumt Ruth ein. Ihr Ziel verliert sie dabei dennoch nicht aus den Augen: Nach dem Abi will sie Medizin studieren.

x