Kommentar Biden erweist den USA einen letzten Dienst

Joe Biden.
Joe Biden.

Joe Biden gibt auf: Der US-Präsident tritt nicht zur Wiederwahl an. Er verzichtet auf eine mögliche zweite Amtszeit – und zeigt am Ende seiner Karriere einmal mehr, worum es ihm immer ging: um das Wohlergehen des amerikanischen Volkes.

Während andere „Make America Great Again“ in die Mikrofone brüllen, hat er Amerika zeitlebens groß gemacht: als Senator, als Vizepräsident von Barack Obama, als Präsident mit Herz und Verstand – und: ausgestattet mit einer guten Bilanz. Die Wirtschaft brummt, bei den Krisen dieser Welt hat die USA dank seiner Weitsicht Führung übernommen. Biden war für die USA und für Europa ein großer Glücksfall. Trotzdem ist seine Entscheidung von Sonntag sein aktuell wichtigster Dienst an der Demokratie. Bidens Rückzug ist die wohl letzte Chance, einen erneuten Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus zu verhindern.

Ein bewegtes Politikerleben

Ende des Jahres endet damit eine politische Karriere, die selbst im an Pathos reichen Amerika ihresgleichen sucht. Mit 81 Jahren blickt US-Präsident Joe Biden auf ein bewegtes Politikerleben zurück – und auf ein Privatleben mit vielen Schicksalsschlägen. Er mag nicht das Charisma eines Barack Obama haben – der wohl recht großen Anteil hat am Rückzug des Präsidenten. Aber Biden hat mit seiner Ruhe und seiner tiefen Kenntnis von komplexen Zusammenhängen die USA durch unruhige Zeiten geführt. Corona-Pandemie, Inflation, Nahostkrieg, Ukraine: Die Amtszeit von Biden ist eine der großen Katastrophen. Er konnte sie nicht verhindern, aber professionell managen – und den Amerikanern, Ukrainern und auch den Deutschen Hoffnung spenden in Zeiten kollektiver Hoffnungslosigkeit.

Das danken ihm viele in seinem Land – aber bei weitem nicht alle. Groß war der Spott in den vergangenen Wochen für ihn. Jeder Versprecher, jeder Fehler wurde hämisch belacht. Der Umgang mit Biden steht pars pro toto für eine Gesellschaft, die auch der erfahrenste Präsident nicht einen, deren Wunden keiner heilen kann. Amerika nach Biden ist gespaltener denn je. Umso wichtiger, dass nicht auch noch der Oberspalter schlechthin erneut ins Weiße Haus einzieht. Wenn Joe Biden das mit seinem Rückzug verhindert hat, ist das womöglich sein größtes Vermächtnis.

Harris kann ihre eigene Geschichte schreiben

Ob es am Ende der Druck der Spender war? Die schlechten Aussichten auf einen Wahlerfolg? Die Selbsteinsicht, dass die Kraft ausgeht? Egal, was Joe Biden dazu gebracht hat, einem anderen das Feld zu überlassen: Der Rückzug kommt soeben noch rechtzeitig. Alles läuft nun auf Kamala Harris hinaus. Ihr bescheinigen Umfragen Chancen gegen Trump – dabei galt sie als Vize von Biden vielen gerade in Europa als Enttäuschung. Sollten sich die Demokraten auf sie als neue Kandidatin einigen, muss sie schnell an Profil gewinnen. Sie muss insbesondere bei dem großen Thema Migration den richtigen Ton finden: klar, ohne Umschweife – aber als Gegenentwurf zum populistischen Trump. Kamala Harris war zu Beginn ihrer Amtszeit eine Hoffnungsträgerin, die mobilisierte. Schafft sie das wieder – an der Seite eines starken Vize in spe –, kann sie ihre eigene Geschichte schreiben. US-Amerikaner lieben Geschichten. Harris muss schnell los schreiben.

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