Leitartikel Die Grünen sind wie im Schraubstock eingeklemmt

Betretene Mienen: Ko-Parteichef Omid Nouripour neben der Spitzenkandidatin für die EU-Wahl, Terry Reintke, und der zweiten Bunde
Betretene Mienen: Ko-Parteichef Omid Nouripour neben der Spitzenkandidatin für die EU-Wahl, Terry Reintke, und der zweiten Bundesparteichefin Ricarda Lang.

Bei der Europawahl sind den Grünen die Wähler davongelaufen. Sie müssen sich neu erfinden, Positionen klären. Sonst sind sie in Gefahr, an einer sich rasant verändernden Wirklichkeit zu zerschellen.

Aus heutiger Sicht könnte es nach der nächsten Bundestagswahl, auch einer vorgezogenen, am ehesten zu einer Neuauflage von Schwarz-Rot kommen. Oder zu einem Regierungsbündnis aus CDU/CSU und den Grünen. Wie bitte, den Grünen? Sind die nicht gerade bei der Europawahl gnadenlos abgestürzt? 2019 erhielt die Partei 20,5 Prozent der Stimmen, 2024 waren es noch 11,9 Prozent. Allerdings liegen die Genossen nicht viel höher, auch nicht in jüngsten Umfragen. Bei der Kanzlerpartei besteht zudem ein weitaus höheres innerparteiliches Revolutions- und damit Absturzpotenzial, siehe die anschwellende Diskussion um Olaf Scholz.

Bei den Grünen hingegen geht es vorerst weniger um Personen als um Inhalte. Sprich: um den Markenkern einer Partei, die sich lange als gesellschaftspolitische Speerspitze wähnte – und der jetzt die Wähler davonlaufen.

Alltagssorgen geben den Ausschlag

Das zeigt sich mit aller Schärfe bei der Migration. Früher, um die Jahrtausendwende bei den Balkankriegen, konnten die Grünen für sich reklamieren: Der innerparteiliche Streit um die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt die gesamtgesellschaftliche Diskussion wider! Doch das gilt bei der Migration nicht. Dazu ist dieses Problem den Bürgern zu nah; schon zu lange wird über illegale Flüchtlinge diskutiert.

Konservative Politiker haben schon immer verstanden, dass beim Wahlverhalten im Zweifelsfall Alltagssorgen den Ausschlag geben – und nicht das Pochen auf eher abstrakte Werte wie Menschenrechte. Das mag man gut finden oder nicht. Das Abstimmverhalten gerade Jüngerer bei der EU-Wahl spricht indes eine klare Sprache. Anders als früher haben junge Menschen vermehrt für konservative bis rechtsextreme Parteien votiert. Kurz gesagt: Stimmen abgesahnt haben Parteien, die eine strengere Flüchtlingspolitik fordern und dies mit der Angst vor einem drohenden Wohlstandsverlust verbinden.

Die Gleichung stimmt nicht

Die Frage „Reicht es auch für uns?“ hat offenbar gerade Jüngere dazu bewogen, ihr Kreuzchen nicht bei den Grünen zu machen. Zwar haben nach der ersten Aufregung tiefere Analysen die These entkräftet, heute 16- bis 24-Jährige seien viel weiter nach rechts gerückt als die Generationen vor ihnen. Doch Fakt ist zugleich, dass die lange verbreitete Gleichung „Jung gleich Grün“ nicht stimmt.

Das zeigt sich beim zweiten Megathema: dem Klimaschutz. Bei der Europawahl und bei der Bundestagswahl 2021 schien es wegen der vielen „Fridays for Future“-Demonstranten so, als seien alle Jugendlichen klimabewegt. Doch diese Gruppe zerfällt in Untergrüppchen mit gegenteiligen Interessen. Hier ist die Furcht vor Wohlstandsverlust ebenfalls mit im Spiel. Beispiel: Der Jugendliche auf dem Land, der nur per Auto zu seinen Kumpeln kommt, hat zum Verbrennermotor ein anderes Verhältnis als der 19-Jährige in der Stadt mit gutem Nahverkehr. Grünen-Konzepte werden – auch wegen verunglückter Kommunikation (Heizungsgesetz) – als Gefahr wahrgenommen.

Politik als Chance

Weil sie im Bund mit nervösen Partnern regieren, ist es den Grünen nicht gelungen, solche Widersprüche aufzulösen. Bei Wahlen ergeht es ihnen daher so wie den Überbringern schlechter Nachrichten in der Antike: Sie werden abgestraft. Eingeklemmt zwischen den Zwängen des Regierens und dem Anspruch, für bestimmte Werte zu stehen, müssen sich die Grünen neu erfinden. Wenn sie es nicht schaffen, ihre Politik als Chance herauszustellen, beispielsweise beim Abstreifen der fossilen Energiefesseln, werden sie auf absehbare Zeit in der Bundespolitik keine wichtige Rolle spielen.

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