USA US-Abtreibungsrecht: Eine historische Zäsur
Die Vorgeschichte
Das Urteil von 1973 ist nach Jane Roe benannt – ein Pseudonym für Norma McCorvey, die damals zunächst anonym bleiben wollte. Die alleinstehende Mutter war 1969 zum dritten Mal schwanger geworden und wollte abtreiben. Im US-Bundesstaat Texas, wo McCorvey lebte, waren damals aber Schwangerschaftsabbrüche verboten; Ausnahmen gab es nur, wenn das Leben der Mutter gefährdet war. McCorvey zog deswegen 1970 vor Gericht. Konkret verklagten ihre Anwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington den Staatsanwalt von Dallas, Henry Wade. Die Anwältinnen argumentierten, dass das texanische Recht gegen die US-Verfassung verstoße. Der Fall landete schließlich vor dem Supreme Court.
Das Urteil
Nach zwei Anhörungen gab der Supreme Court am 22. Januar 1973 das Urteil „Roe v. Wade“ (für „Roe versus Wade“, „Roe gegen Wade“, häufig kurz „Roe“) bekannt. Mit einer Mehrheit von sieben zu zwei Richtern erklärte der Gerichtshof das texanische Abtreibungsrecht für verfassungswidrig und legalisierte zugleich landesweit Schwangerschaftsabbrüche. Verfassungsrichter Harry Blackmun, der das Urteil schrieb, begründete die Entscheidung mit einem „Recht auf Privatsphäre“, das er aus der US-Verfassung ableitete. Dieses Recht sei aber „nicht absolut“, sondern unterliege „Beschränkungen“, heißt es in dem Urteil. „An einem gewissen Punkt überwiegt das Interesse des Staates zum Schutz von Gesundheit, medizinischen Standards und ungeborenem Leben.“ Als Richtlinie wurde festgehalten, dass Abtreibungen grundsätzlich so lange erlaubt sind, bis der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre. Das ist etwa nach 24 Schwangerschaftswochen der Fall.
Die Folgen
Die Verfassungsrichter schrieben schon in ihrem Urteil, sie seien sich bewusst, wie „heikel und emotional“ das Thema Abtreibung sei. Es gebe „heftige gegensätzliche Ansichten“ und „tiefgehende und anscheinend absolute Überzeugungen“. Tatsächlich blieb das Abtreibungsrecht in den USA eines der umstrittensten gesellschaftspolitischen Themen. Konservative Politiker und Abtreibungsgegner setzten sich zum Ziel, „Roe“ rückgängig zu machen. Das Urteil wurde vom Supreme Court aber mehrfach im Grundsatz bestätigt, unter anderem mit dem Urteil „Planned Parenthood v. Casey“ aus dem Jahr 1992. Schon damals wäre „Roe“ beinahe gekippt worden, ein konservativer Verfassungsrichter wechselte aber letztlich die Seite und trug damit zum Erhalt des Grundsatzurteils bei.
Die rechtliche Auseinandersetzung um ein 2018 beschlossenes Abtreibungsgesetz aus dem Bundesstaat Mississippi, das Schwangerschaftsabbrüche nach der 15. Woche verbietet, führte jetzt zum Ende für „Roe“: Es ist dieser Fall, in dem der Supreme Court das fast 50 Jahre alte Grundsatzurteil aufhob.
Die Konsequenzen
Mit dem Ende von „Roe“ gibt es kein landesweites Recht auf Abtreibungen mehr, denn das Thema ist in keinem Bundesgesetz geregelt. Damit haben die Bundesstaaten freie Hand, Abtreibungen zu verbieten oder stark einzuschränken. Nach Angaben des Guttmacher Institute dürften 26 und damit etwa die Hälfte der 50 Bundesstaaten diesen Weg wählen. 13 dieser konservativ geführten Bundesstaaten haben entsprechende Gesetze bereits vorbereitet, sie würden bei einer Aufhebung von „Roe“ nahezu automatisch in Kraft treten. Dagegen wollen die von den Demokraten von Präsident Joe Biden regierten Bundesstaaten am Recht auf Schwangerschaftsabbrüche festhalten.
Die politischen Auswirkungen
Das Abtreibungsrecht dürfte nach dem Supreme-Court-Urteil eine wichtige Rolle im Wahlkampf für die Kongress-Zwischenwahlen im November einnehmen. Die auf eine schwere Wahlschlappe zusteuernden Demokraten werden versuchen, mit einem Kampf für das Abtreibungsrecht Wähler zu mobilisieren. Allerdings gibt es starke Zweifel daran, dass das Abtreibungsrecht eine wahlentscheidende Rolle spielen wird. Andere Themen – insbesondere die hohe Inflation und andere wirtschaftliche Probleme – dürften größeres Gewicht haben.