Meinung Bitte wenden! – Ein Plädoyer für die Veränderung

Der Ruf der Veränderung ist ruiniert. Das liegt auch daran, dass Veränderung häufig grottenschlecht kommuniziert wird.
Der Ruf der Veränderung ist ruiniert. Das liegt auch daran, dass Veränderung häufig grottenschlecht kommuniziert wird.

Alles ist anders. Alles ist kompliziert. Alles verlangt uns viel ab. Muss das wirklich so sein? Wäre es nicht wunderbar, wenn alles so bleiben könnte, wie es war? Nein, das wäre es nicht! Ein Essay über die Notwendigkeit des Wandels.

Veränderungen sind irgendwie Mist. Nehmen wir mal die Stadtstraße in X, beliebter Schleichweg ins Zentrum. Jederzeit gerne genutzt, von jedem, der sich auskennt. Freie Fahrt, hurra! Sind wir ja so gewohnt. Was aber passiert, wenn die Straße quasi über Nacht zur Einbahnstraße wird? Vermutlich fahren wir rein und werden ausgehupt. Auf jeden Fall sind wir irritiert, ratlos, müssen umkehren, uns eine neue Strecke suchen, womöglich sogar, oje, laufen oder Bus fahren. Wir haben einen dicken Hals. Wir schimpfen: auf Planer, Verwaltung, Politik. Auf die Ahnungslosen, die für diesen Unsinn verantwortlich sind.

Veränderungen lauern überall: Radwege statt Parkplätze. Elektroauto statt Verbrenner. Lehrer*in statt Lehrer. Ressourcen schonen statt munter drauf los verbrauchen. Wärmepumpe statt Gasheizung. Schreiben nach Gehör statt Schönschrift. Schokokuss statt Mohrenkopf. Kontaktloses Bezahlen statt Bargeld. E-Paper statt Papierzeitung. Tofu statt T-Bone. Online-Banking statt netter Herr Müller vom Schalter „G bis K“.

Das Problem mit Veränderungen ist, dass sie unvermeidlich sind. Nicht in jedem einzelnen Fall und nicht in jedem verzweigten Detail. Aber sie sind es im Großen und Ganzen. Veränderung ist gut. Veränderung heißt nicht blinde Fortschrittsgläubigkeit. Veränderung heißt, an der Zukunft zu arbeiten. Der Klimawandel zum Beispiel ist weder ein Witz noch eine Lappalie – fragen Sie hier besser nicht das Internet, fragen Sie Landwirte, die Menschen in Überschwemmungsgebieten oder Ihre Hotelwirtin in Spanien.

Wir haben Kinder geschlagen

Erinnern wir uns: Wir sind einst ohne Sicherheitsgurt Auto gefahren und haben verbleites Benzin verbrannt. Wir haben in Restaurants und in Flugzeugen geraucht. Wir haben FCKW in Kühlschränke verbaut. Wir haben auf „Neger“ herabgeschaut. Wir haben wie selbstverständlich unsere Kinder geschlagen. Wir haben, wenn wir Männer waren, fremden Frauen unbekümmert an den Po gefasst. Veränderungen, auch wenn sie meist Widerstand auslösen, machen die Welt besser.

Früher war alles besser? Na, ja. Früher haben wir zum Beispiel Kinder geschlagen. Und fremden Frauen unbekümmert an den Po gefas
Früher war alles besser? Na, ja. Früher haben wir zum Beispiel Kinder geschlagen. Und fremden Frauen unbekümmert an den Po gefasst.

Klar, über viele Veränderungen lässt sich streiten. Bargeld abschaffen oder nicht? Elektroautos oder E-Fuels? Ge ndern oder nicht? Umstritten ist sowieso alles Gesellschaftliche, manche würden sagen Ideologische. Unbestritten ist aber: Es kann nicht einfach alles bleiben, wie es ist. Die Umstände, die Rahmenbedingungen unseres Lebens, entwickeln sich. Sie verändern sich dramatisch und schnell. Starkregen, Krieg, Demografie. Es liegt außerdem weiterhin vieles im Argen, das nie vollends überwunden wurde: Sexismus und Rassismus zum Beispiel.

Wir Gewohnheitstiere

Das Dilemma der Gegenwart ist: Der Ruf der Veränderung ist beschädigt, man kann sogar sagen ruiniert. Das hat Gründe.

Helmut Kohls Spruch von den „blühenden Landschaften“, die im Osten Deutschlands entstehen würden, war letztlich ein Sedativum.
Helmut Kohls Spruch von den »blühenden Landschaften«, die im Osten Deutschlands entstehen würden, war letztlich ein Sedativum.

Einer davon: Wir Gewohnheitstiere können Veränderungen einfach nicht leiden, siehe die neue Einbahnstraße. Veränderungen machen uns Mühe. Wir sind sie nicht mehr in dem Maß gewohnt, wie sie uns mittlerweile begegnen. Wir haben uns, glauben wir, doch schon ausreichend stark verändert. Viele Veränderungen kommen zusammen und lösen, wie wir spüren, einen immer noch größeren Veränderungsdruck auf uns aus. Manche Veränderung – manche Minderheit – traut sich erst jetzt ans Licht, da die Gesellschaft vermeintlich bereit ist für sie und ihre oft unnachgiebig geäußerten Forderungen. Viele Veränderungen sind grundlegender und kommen abrupter, als wir das aus der Vergangenheit in Erinnerung zu haben glauben. Und: Veränderungen werden von denen, die behaupten, nichts verändern zu wollen, ganz offen verächtlich gemacht. Was – leider – vor allem deshalb so gut klappt, weil Veränderungen häufig grottenschlecht kommuniziert werden.

Ein Dolchstoß von Habeck

Der Start von Robert Habecks Heizungsgesetz im Jahr 2022 könnte in die Geschichte eingehen als Start in die größte Krise der Grünen und – zusammen mit der Kommunikationsverweigerung des Bundeskanzlers – als Anfang vom Ende der Berliner Ampelkoalition. Es war auch ein Dolchstoß für die Veränderungsbereitschaft. Der grüne Bundeswirtschaftsminister wollte dem Land auf die Schnelle bessere, aber mutmaßlich sauteure Heizungen verordnen und hatte dabei unterschätzt, welche Ängste das bei den Menschen auslöst. Er hatte zudem ganz außer Acht gelassen, was die Bevölkerung wohl auch ohne seine Keule zu leisten bereit gewesen wäre. Dass Gas und Öl immer teurer werden würden, wusste doch jede(r). Habeck schockte ein Land, die Stimmung wurde dazu angeheizt von der „Bild“, die den vom Minister ausgehenden Veränderungsdruck zur Kampagne gegen Veränderungen an sich nutzte.

Ob Habecks Fehler verzeihlich ist, weil er in guter Absicht geschah und weil der Minister ja tatsächlich etwas verändern wollte, wird die Geschichte klären. Das Tragische ist: An neuen, besseren, saubereren Heizungen, die uns unabhängiger vom Ausland machen, führt kein Weg vorbei. Aber darum geht es gar nicht mehr. Längst heißt es: „Wir dürfen nicht mehr grillen, müssen ge ndern, und unsere Heizung nehmen sie uns auch weg.“ All das ist Unsinn. Aber es ist eben allgegenwärtiger Unsinn. Richtig ist: Wir müssen uns weiter verändern.

Kohl, Merkel und das „Weiter so!“

Angela Merkel und Helmut Kohl wäre der Habeck-Fehler nicht passiert. Beide haben als Kanzlerin und Kanzler verstanden, dass Veränderung Gefahr – für sie – bedeutet. Beide blieben auch deshalb 16 Jahre lang im Amt, weil sie das Gefühl zu vermitteln verstanden, es könne immer so weitergehen wie bisher. Selbst die deutsche Einheit wurde den Menschen so verkauft, mit Folgen bis in die Gegenwart. „Beitrittsgebiet“ klingt für den Westen halt nach harmlosem Fliegenschiss, nicht nach epochaler Veränderung. Die rot-grüne Hartz-IV-Reform in den Nullerjahren dagegen brachte eine massive und notwendige Veränderung des Sozialstaats und machte Deutschland auf Jahre hinaus wirtschaftlich stark und widerstandsfähig. Schröder/Fischer wurden abgewählt.

Kampf den Nörglern

Das zeigt: Veränderung braucht Mut. Veränderung braucht auch Selbstlosigkeit. Veränderung braucht Weitsicht. Veränderung braucht Kommunikation. Veränderung braucht langen Atem. Veränderung braucht auch Selbstbeschränkung, das heißt: Dosierung. Vielleicht erst mal das Klima retten oder wenigstens die Ukraine oder das deutsche Bildungssystem, und danach die Stadtverwaltung anweisen, Bürger nicht mehr mit „Herr“ oder „Frau“ anzuschreiben, sondern bitte geschlechtsneutral. Vielleicht nicht Straßennamen ändern und zugleich Brücken verrotten lassen. Veränderung braucht gerade heute: eine starke Lobby gegen jene, die behaupten, es ginge auch ohne.

Im Fall der neuen Einbahnstraße wäre die Lobby die Politik, die nicht beim ersten Gegenwind gegen autoärmere und menschenfreundlichere Städte einknicken und den Schleichweg wieder freigeben sollte. Und es wären die Anwohner, die endlich vom Durchgangsverkehr entlastet sind. Im besten Fall waren ja sie es, die die Entscheidung gefordert haben. Halten sie im Gegenwind der Nörgler die Klappe, wird halt am Ende doch nichts besser.

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Dieser Artikel stammt aus der RHEINPFALZ am SONNTAG, der Wochenzeitung der RHEINPFALZ. Digital lesen Sie die vollständige Ausgabe bereits samstags im E-Paper in der RHEINPFALZ-App (Android, iOS). Sonntags ab 5 Uhr erhalten Sie dort eine aktualisierte Version mit den Nachrichten vom Samstag aus der Pfalz, Deutschland und der Welt sowie besonders ausführlich vom Sport.

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