Rheinpfalz Augen zu und durch beim „Muddy Angel Run“

91-100769427.JPG
Tauchgang: Schlamm in den Schuhen hat man beim »Muddy Angel Run« schon nach dem ersten Hindernis. Spätestens nach der Schwimmübung im Schlammbecken jedoch läuft einem die braune Suppe aus Ohren und Nase.

Tausende Frauen stürzen sich jedes Jahr beim Hindernislauf „Muddy Angel Run“ in den Matsch – für den guten Zweck, für den Teamgeist und das innere Kind. Ein Erfahrungsbericht. Von Natalie Sudermann

Oh Scheiße!“, flucht die Teilnehmerin vor mir, als wir am Wasserbecken ankommen. Ich werfe einen Blick an ihr vorbei und weiß sofort, warum. Dieses Hindernis kann man nur bezwingen, indem man unter einer Holzleiste durchtaucht. Was nicht schwer ist. Nur: Es ist später Nachmittag, und da schon Tausende Frauen vor uns mit ihren Schlammklamotten durch das Becken getaucht sind, ist das Wasser eine undurchsichtige, ockerbraune Plörre. Natürlich könnte man jetzt auch einfach um das Becken herumgehen. Aber gekniffen wird nicht. Ich steige hinein. Dass das Wasser – pardon – arschkalt ist, macht schon nichts mehr. Nass sind wir heute schon mehr als einmal geworden, die vollgesogenen Hosen hängen schwer auf der Hüfte und kleben an den Beinen. Ich tauche bis zur Brust ein. Atme tief ein und aus. Und noch mal. Und noch mal. „Jetzt mach schon!“, schelte ich mich selbst. Augen zu, Mund zu, Nase zu – und durch. Geschafft. Die braune Suppe läuft mir aus den Ohren und tropft auf den Asphalt, ich schmecke Sand zwischen meinen Zähnen. Ich spucke aus. Was nicht viel hilft. Egal. Weiter geht’s.

Location: Commerzbank-Arena in Frankfurt

Zwei Stunden zuvor bin ich an der Frankfurter Commerzbank-Arena angekommen, wo an diesem Samstag der „Muddy Angel Run“ stattfindet. 7.000 Frauen sind, über den Tag verteilt, auf der fünf Kilometer langen Strecke unterwegs, auf der man 14 Hindernisse wie Gitterhürden, eine Kletterpyramide oder einen Reifenberg überwinden muss. Die Männer sind sie heute zum Zuschauen verdammt: Sie dürfen anfeuern, Taschen halten, Fotos machen, auf die Kinder aufpassen, während Mama durch den Matsch joggt und robbt. Die meisten Teilnehmerinnen treten im Team zum Lauf an. Ich auch: Wir sind fünf Frauen um die 30 und haben das günstigste Teamoutfit gekauft, das wir finden konnten – dass unsere Klamotten den Lauf heil überstehen, damit rechnen wir nicht. An den Füßen tragen wir ausgelatschte, alte Turnschuhe, um die Köpfe leuchtend pinke Stirnbänder mit unseren Startnummern. Wir mischen uns unter die anderen 300 Frauen, die zeitgleich mit uns loslaufen. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik, auf der Bühne steht eine Fitnesstrainerin. Zeit fürs Warm-up. Das ist auch nötig, denn statt hochsommerlicher Temperaturen sind es gerade mal 15 Grad.

„Krebs kämpft dreckig – das können wir auch!“

Das Startsignal ertönt, wir laufen los. Schon nach wenigen Metern stehen wir vor einem Becken voller Schlamm. „Krebs kämpft dreckig – das können wir auch!“ ist das Motto des Muddy Angel Runs, der in ganz Europa stattfindet. Die Startgebühr geht für die Organisation des Laufs drauf. Wer will – so wie wir –, kann aber Geld an den Verein Brustkrebs Deutschland spenden. Viele treten an, um Betroffenen Mut zu machen: „Matschengel für Mama“ oder „Stark sein für Dagmar“ steht zum Beispiel auf Teamtrikots. Wie lange man für den Parcours braucht, ist egal. Es geht nicht um Bestzeiten, um schneller, höher, weiter, sondern ums Durchhalten, Ängste überwinden, einander Halt geben. Da machen die größeren Kandidatinnen an der Holzwand für die Kleineren eine Räuberleiter, da reicht man anderen die Hand, damit sie sicher über die rutschige Riesenwippe laufen können. Da leiht man eine Freundin an eine andere Gruppe aus, damit auch die genügend starke Arme fürs Team-Tragen hat. Und da spricht man denjenigen, die angesichts des Tauchgangs durch das Wasserbecken ein bisschen Panik bekommen, Mut zu und sagt ihnen, was man sich eben noch im Stillen vorgebetet hat: „Du schaffst das! Nicht lange drüber nachdenken! Augen zu und durch!“ Und ja, ein bisschen kommt auch das innere Kind wieder raus, denn: Wann hat man sich zuletzt so richtig schön dreckig gemacht? Auch abseits der Schlammbecken bietet die Strecke reichlich Pfützen, in die wir mit Schmackes springen – und laut dabei jubeln. Krebs ist ein ernstes Thema. Doch der Lauf macht vor allem eins: Spaß. Sogar denen, die gar nicht mitmachen. Ein Brautpaar kommt am Parcours vorbei, offenbar auf dem Weg ins Stadion, um Hochzeitsbilder zu schießen. Ein paar Schlammengel rennen auf sie zu, triefend, tropfend. Aber die Braut reagiert cool, Angst um ihr Outfit hat sie offenbar nicht, denn sie lässt sich von den Läuferinnen ein paar Schmatzer auf die Backen drücken, lacht und zieht weiter.

Millionen Menschen nehmen an solchen Hindernisläufen teil

An derlei Hindernisläufen nehmen weltweit inzwischen Millionen Menschen jährlich teil. Der „Muddy Angel Run“ ist dabei ein Kinderspiel: Bei „Spartan Race“ oder „Tough Mudder“ etwa quälen sich Männer und Frauen 20 Kilometer weit durch den Matsch, springen in eiskaltes Wasser und krabbeln unter Stromkabeln durch – und nehmen Verletzungen in Kauf, die über Schrammen und blaue Flecken hinausgehen. Motivation ist dabei nicht nur die sportliche Herausforderung und das „Wir“-Gefühl – viele der Hindernisse sind so konzipiert, dass man sie allein kaum oder gar nicht schaffen kann. Rebecca Scott von der Cardiff Business School und ihre Forscherkollegen Julien Cayla und Bernard Cova haben das Phänomen näher untersucht. Ihr Fazit: In Zeiten, in denen immer weniger Menschen harte körperliche Arbeit leisten und immer mehr die meiste Zeit im Büro sitzen, bieten Extremläufe die Möglichkeit, die verlorene Körperlichkeit wiederzuentdecken: Anstrengung, Erschöpfung, Schmerz machen den Körper wieder spürbar und lenken für eine Weile vom Alltag ab.

Blaue Flecken und Muskelkater

Bei uns bleibt es bei ein paar blauen Flecken und Muskelkater. Das letzte Hindernis ist ein Lehmberg. Die Füße sinken tief ein, der klebrige Boden hat schon erste Opfer gefordert: Einige Schuhsohlen stecken im Schlamm. Runter geht’s über eine Rutsche: Mein Team greift sich an den Händen, springt und gleitet bäuchlings und mit Kopf voran hinunter – in den Schlamm, wohin auch sonst? „Oh Scheiße!“ rufe ich und mache gerade noch rechtzeitig den Mund wieder zu. Nach dem Zieleinlauf geht’s unter die Dusche – unter freiem Himmel, nur mit kaltem Wasser. Dagegen fühlte sich die Schlammpackung fast wohlig warm an. Noch nie habe ich mich so auf ein heißes Bad gefreut.

x