Wissen Universität Mainz: Mittelalterschätze vom Analogen ins Digitale gerettet

Bettina Dreis richtet ein historisches Chorbuch aus dem Mittelalter unter einem Spezialscanner millimetergenau aus. Das Gerät di
Bettina Dreis richtet ein historisches Chorbuch aus dem Mittelalter unter einem Spezialscanner millimetergenau aus. Das Gerät digitalisiert das Buch mit Hilfe einer hochauflösenden Digitalkamera.

Chorbücher, Chroniken und mehr: Mittelalterliche Handschriften aus Mainz, Speyer und Worms werden digitalisiert. Vor Jahrhunderten auf Pergamentseiten aufgebrachte Buchstaben werden so mit wenigen Klicks greifbar.

Hier ein modernes Scangerät, dort ein historisches Chorbuch – was auf den ersten Blick nicht recht zusammenpasst, findet an der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität zueinander. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) maßgeblich finanzierten Projekt werden über drei Jahre hinweg historische Handschriften aus Beständen öffentlicher Einrichtungen in Mainz, Speyer und Worms digitalisiert – und so für die weitere Forschung gesichert sowie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Sorgsam platzieren die beiden gelernten Fotolaboranten Bettina Dreis und André Tschepe das rund 600 Jahre alte, aus einem Karmeliter-Kloster stammende Chorbuch auf einem speziellen Scangerät in einem fensterlosen Raum auf dem Flur des Instituts für Kunstgeschichte der Mainzer Uni. Das Buch mit welligen Seiten aus Pergament und einem Ledereinband ist aus dem Bestand des Mainzer Dom- und Diözesanmuseums.

Bis zu 1100 Jahre alte Schriften

Darunter liegen ein schwarzes Tuch und etwas Schaumstoff, um den Buchrücken abzustützen. Der Scanner-Tisch weist einen Winkel von 110 Grad auf, damit das Buch nicht zu weit aufgeschlagen und unnötig stark belastet werden muss – sonst könnte am Ende die jahrhundertealte Fadenbindung reißen.

Dreis und Tschepe sind es, die seit einigen Wochen und voraussichtlich noch mehrere Jahre lang solche Handschriften digitalisieren werden. Bis zu 1100 Jahre alte Schriften sind unter den insgesamt 462 Objekten mit ungefähr 170.000 Seiten dabei, wie Klaus Weber berichtet. Er ist gelernter Kunsthistoriker und Leiter des Servicezentrums Digitalisierung und Fotodokumentation unter dem Dach der Universitätsbibliothek (UB), die bei dem Projekt federführend ist und dafür 310.000 Euro von der DFG bekommt.

Der Schwerpunkt der Schriften, die digitalisiert werden, sei auf das Ende des 14. Jahrhunderts zu datieren, erklärt Christian George, Leiter Archive und Sammlungen der UB. „Die politische, religiöse und wirtschaftliche Spitzenstellung machte den Mittelrhein im Mittelalter zu einer herausragenden Region der Handschriftenproduktion“, betont er. Genau um Schätze aus dieser Region gehe es bei dem Projekt.

Übergreifende Fragen der Kulturgeschichte erforschen

Nachdem Kriege der Neuzeit und die Französische Revolution erhebliche Schäden verursacht hätten, sei die reiche mittelalterliche Buchlandschaft der drei Städte Mainz, Speyer und Worms heute sehr unübersichtlich. Mit der Digitalisierung und der Bereitstellung der Daten sollen nun neue Möglichkeiten geschaffen werden, übergreifende Fragen der Kultur- und Überlieferungsgeschichte zu erforschen.

Präsentiert werden die digitalisierten Schriften nach und nach auf dem Portal Gutenberg Capture der Mainzer UB. Beteiligt sind eine ganze Reihe an Kulturinstitutionen, insgesamt 13 sind Leihgeber, darunter die Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz, von der mit 273 die meisten Handschriften kommen, die Pfälzische Landesbibliothek in Speyer als Teil des Landesbibliothekszentrums (LBZ) Rheinland-Pfalz, die Stadtarchive Mainz, Speyer und Worms, die Martinus-Bibliothek in Mainz sowie das Bistumsarchiv Speyer.

„Die mittelalterlichen Handschriften unserer Kulturgut-bewahrenden Einrichtungen sind ein großer Schatz für Rheinland-Pfalz“, sagt Annette Gerlach, Leiterin des Landesbibliothekszentrums. Dass dank des Projekts alle Dokumente künftig zeit- und ortsunabhängig von allen Interessierten digital genutzt werden können, sei ein kaum hoch genug einzuschätzender Gewinn. Armin Schlechter, Abteilungsleiter Sammlungen im LBZ ergänzt, das Projekt sehe auch die Erschließung bisher nicht katalogisierter Handschriften vor. „Vor allem für die kleineren Einrichtungen mit nur wenigen Handschriften, die nun sichtbar werden, ist dieses Projekt ein großer Gewinn“, betont er.

In aller Regel seien die Schriften in der Vergangenheit jeweils einem kleinen Personenkreis vorbehalten gewesen, betont Weber von der Universitätsbibliothek. Nun würden sie einem sehr viel größeren Kreis zur Verfügung gestellt, sie würden quasi vom Analogen in das Digitale gerettet. „Das ist Demokratie im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt Weber.

Mit Handschuhen und Münchner Finger am Werk

Die zwei Fotolaboranten blättern nach jedem Scan die Seiten vorsichtig um, dabei tragen sie weiße Stoffhandschuhe. Für den Fall, dass eine Seite sehr wellig ist und für einen Scan kurz glatt gehalten werden muss, liegt ein sogenannter Münchner Finger parat. Der ist aus Plexiglas und ermöglicht das Niederdrücken des Pergaments, ohne es anfassen zu müssen.

Das Gros der Handschriften hat einen religiösen Hintergrund, wie George erklärt – so wie auch das Karmeliter-Chorbuch. Doch es seien auch profane Schriften dabei, darunter Chroniken oder Rechtstexte. Bei einigen Schriften schauen sich Restauratoren vor dem Scannen den Zustand an. Insofern bringe das Projekt auch eine Bestandsdokumentation, erklärt Weber. Und die Scans würden ergänzt um Metadaten, die das weitere Arbeiten damit erleichtern sollen.

Ob opulenter Einband, verzierte Beschläge, aufwendig Initialen am Anfang eines Absatzes oder hölzerne Buchdeckel mit Spuren von Holzwürmern, es sind ganz besondere Objekte, die bei dem Mainzer JGU_Projekt digitalisiert werden. Das ist auch Fotolaborantin Bettina Dreis bewusst. Sie sagt: „Jedes ist auf seine Art einzigartig.“

 Ein Chorbuch aus dem Mittelalter wird unter einem Spezialscanner exakt ausgelegt für die Digitalkamera.
Ein Chorbuch aus dem Mittelalter wird unter einem Spezialscanner exakt ausgelegt für die Digitalkamera.
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