Kaiserslautern Wider die kranken Krakeeler

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Keine zweite Inszenierung an einem hauptstädtischen Theater wurde wohl zuletzt mit derartiger Spannung erwartet, wie Michael Thalheimers Adaption von Molières „Der eingebildete Kranke“ an der Schaubühne Berlin. Und tatsächlich: Die Inszenierung gehört zu den gegenwärtig ungewöhnlichsten Theaternovitäten hierzulande.

Vor allem zwei Inszenierungen verdankt der jetzt 51-jährige Michael Thalheimer seine Beliebtheit beim Publikum (und bei der Kritik) in Berlin: Lessings „Emilia Galotti“, von 2001 bis 2009 ein stets ausverkaufter Dauer-Renner am Deutschen Theater Berlin, und seiner seit der Premiere vor gut drei Jahren immer ausverkauften Interpretation von Molières „Tartuffe“ an der Schaubühne. Sie hatte im Dezember 2015 bei einem Gastspiel auch einen enormen Erfolg im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen. In beiden Fällen gelingt Thalheimer dank seiner Kunst kluger Verknappung, und durch eine oft fast magisch anmutende Schnelligkeit des Erzählens hoch artifizielles Schauspiel. Den Offerten ist zudem zu eigen, dass sie die Stücke nicht im Gestern ihrer jeweiligen Entstehungszeit belassen, sondern dass sie, ohne vordergründige Verweise, auf gegenwärtige Probleme schauen. Vor allem Letzteres zeichnet nun Thalheimers Adaption von „Der eingebildete Kranke“ aus. Man kann diesen Abend als eisig überzeichneten Spiegel heutiger geistiger Verwirrung in Deutschland betrachten. Argan, die Hauptfigur, der wohlhabende und wohl-lebende Mann, der sich in Krankheiten geradezu sudelt und zwielichtigen Quacksalbern ganz unkritisch sein Ohr leiht, steht an diesem Abend für das Deutschland der Krakeeler. Er vertritt all jene, die meinen, das Land sei schwach und krank, die sich von Ängsten treiben lassen, die sie nur allzu oft selbst heraufbeschwören, die sich von den hohlen Parolen der Populisten einreden lassen, allein Radikalkuren könnten die zweifellos vorhandenen Schwierigkeiten, mit denen es die bürgerliche Gesellschaft gerade in Westeuropa zu tun hat, beheben. Das ist in seiner Schärfe bezwingend. Komisch ist das nicht, oder nur in sehr seltenen Momenten, dann allerdings hat der Witz eine gallebittere Note. Thalheimer liefert ein Traktat, Konzept-Theater von konsequenter Geradlinigkeit. Tatsächlich müsste es heißen „nach Molière“. Nicht nur hat Thalheimer wieder extrem gekürzt und Gewichtungen verlagert, nicht nur hat er den oft ganz leicht daherkommenden Humor Molières eingeschwärzt, er hat auch Texte des deutschen Dichters Andreas Gryphius, einem Zeitgenossen des berühmten französischen Theaterdichters, eingebaut. Da wird von Argan etwa zu Beginn und am Ende das Gedicht „Die Hölle“ zitiert. Dessen Schlusszeile lautet: „O Mensch! Verdirb, um hier nicht zu verderben.“ Man gewinnt den Eindruck, Thalheimer blicke nicht sonderlich hoffnungsvoll auf den Homo sapiens. Bühnenbildner Olaf Altmann, Thalheimers Lieblingsausstatter, hat für die strenge Lesart eine adäquate Spielfläche erdacht: Die meist im Stil des Barock gewandeten Akteure treten in einer Art weißgekacheltem, riesigem Fensterrahmen in einer schwarzen Wand auf. Der gekachelte Kubus hinter dem Rahmen, in den das Publikum blickt, pendelt gelegentlich hin und her und verschwindet gern mal mit Argan, gibt – indem er beiseitegeschoben wird – anderen Figuren Auf- und Abgangsmöglichkeiten. Das ist so wirkungsvoll wie gespenstisch. Ein Höllenschlund. Und, klar, Thalheimer liebt grelle Effekte, da kommen Blut und andere Körperausscheidungen, die der Titelheld gern und ausgiebig absondert, so richtig gut zur Wirkung. Schauspielerisch wird den Akteuren – neben dem exakten und oft sehr schnellen Sprechen – expressives Körpertheater abverlangt. Bei Peter Moltzen im Part des Argan mutet das oft doch recht grob an. Die Frauen sind da subtiler, sei es Jule Böwe als Argans geldgierige Gattin Béline oder Alina Stiegler in der Rolle seiner Tochter Angélique. Herausragend: Regine Zimmermann als Dienerin Toinette. Das ist zweifellos der dankbarste Part. Und die übrigens aus Grünstadt stammende Schauspielerin bewältigt sie mit übersprudelnder Spiellust, dabei mit erstaunlich beredter Mimik begeisternd. Ob sie mit den zum Kussmäulchen geschminkten Lippen schmollt, die Augen verdreht oder spitzbübisch zetert, dabei die Wangen grimmig aufplusternd: Immer legt sie damit Wesentliches der Situation und des Charakters offen. Schon allein ihretwegen lohnt der Besuch der Inszenierung. Doch es bleibt mehr als die Erinnerung an die Kunst Regine Zimmermanns. Thalheimer gelingt es, ein oft oberflächlich heiter gespieltes Lustspiel zu einer Parabel auf den Zustand der Welt umzudeuten. Das ist erst einmal irritierend. Je mehr man aber den Abend auf sich einwirken lässt, umso anregender mutet er an. Man geht bestens irritiert nach Hause und denkt über das heutige Deutschland im Spannungsfeld der Zeit nach.

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