Karlsruhe Ein Leben für den Pilz

91-93175650.jpg

In den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren war das 238 Seiten starke Pilzbestimmungsbuch von Paul Stricker trotz seines stolzen Preises von zwölf Mark in vielen nordbadischen Haushalten verbreitet. Doch der Volksschullehrer und Pilzexperte machte sich nicht nur als Sachbuchautor einen Namen, sondern trat auch mit wissenschaftlichen Aufsätzen zum eingewanderten Tintenfischpilz und als ehrenamtlicher Pilzberater auf Wochenmärkten öffentlich in Erscheinung. „Paul Stricker war ein bedeutender Pilzkundler und hat mit seinem Fachbuch einen wichtigen Beitrag zur Regionalgeschichte geleistet“, sagt sechs Jahrzehnte später der Karlsruher Pilzforscher Markus Scholler. Der Mykologe und Kurator der Pilz- und Algensammlungen des Naturkundemuseums Karlsruhe hat sich in den vergangenen Jahren mit Strickers Leben auseinandergesetzt und zahlreiche bislang unbekannte Daten zusammengetragen. Wichtigste Quelle waren dabei die Tagebücher von Stricker. In sechs eng beschriebenen Heften hatte Stricker zwischen 1927 und 1956 die Funde und Beobachtungen seiner Pilzwanderungen notiert. Für die Auswertung dieses „Datenschatzes“ mussten zunächst mehrere hundert Seiten Sütterlinschrift entschlüsselt und analysiert werden. Dabei erhielt Scholler neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen auch n Einblicke in das Leben und Wirken des bislang wenig bekannten Volksmykologen. Das Licht der Welt erblickte Paul Stricker am 22. September 1878 in Odenheim im Kraichgau. Nach seiner Ausbildung zum Volksschullehrer und ersten beruflichen Stationen in Tauberbischofsheim, Ettlingen und Berolzheim wurde er 1903 an die Volksschule nach Karlsruhe versetzt. Für die Pilzkunde begeistert wurde Stricker während seines Studiums von Professor Ludwig Klein. Der Botaniker und Mykologe war zeitweilig auch Rektor der Technologischen Hochschule Karlsruhe und hatte sich die Vermittlung von Pilzkunde auch an Laien auf die Fahnen geschrieben. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg organisierte Klein Pilzführungen und Pilzberatungen in Karlsruhe und Mitte der 1920er Jahre fand er im Autodidakten Stricker einen engagierten Nachfolger. Sein Hobby zur Berufung machte Stricker aber erst nach seiner Pensionierung im Jahr 1944. „In den handschriftlichen Tagebüchern kommt immer wieder zum Ausdruck, wie bedeutend Pilze und Pilzberatung für die hungernde Bevölkerung während und nach dem Zweiten Weltkrieg waren“, so Scholler. Deshalb wollte wohl Stricker selbst ein Pilzbuch mit regionalem Bezug schreiben. In das 1949 im Karlsruher G. Braun Verlag veröffentlichte Buch selbst brachte Stricker sein gesamtes Wissen ein. Die Beschreibung der wichtigsten Großpilzgruppen war ebenso enthalten wie Tipps zur Aufbewahrung, Zubereitung und Konservierung. Und in seinem „Mahnwort an die Pilzsammler“ kritisierte Stricker all jene Personen, die keine Achtung den Pilzen gegenüber zeigten und „vom Drang beseelt seien alles auszureißen und umzustoßen“. Als die Hungersnot in Karlsruhe Anfang der 1950er Jahre Geschichte war und das Interesse am Pilzesammeln zum Nahrungserwerb abnahm, stellte Stricker auch seine Pilzberatung ein. „Heute habe ich den Pilzmarkt am Gutenbergplatz geschlossen und gleichzeitig der Markthallenverwaltung mitgeteilt, dass ich hiermit meine Funktion als Pilzkontrolleur einstelle“, lautet der entsprechende Tagebucheintrag von 24. November 1951. Strickers Erben sind heute die Mitglieder der Arbeitsgruppe Pilze im Naturwissenschaftlichen Verein Karlsruhe, die Scholler 2003 gründete. Sie führen im Herbst regelmäßig Pilzberatungen durch. Die „Volksernährung“ stehe allerdings nicht mehr im Vordergrund, stellt Scholler klar, „sondern vielmehr die zunehmende Zahl von Naturfreunden und Pilzsammlern“.

91-93175652.jpg
x