Kreis Kaiserslautern Blickpunkt: Die 68er-Generation in der Region: „Wir spürten, dass wir etwas verändern können!“

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Hartwig Pulver (links) und Walter Rung (rechts) im Mai 1968 als 18-Jährige Zwölftklässler a
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Hartwig Pulver (links) und Walter Rung (rechts) im Mai 1968 als 18-Jährige Zwölftklässler auf Studienfahrt in Paris. Im Quartier Latin waren die Proteste auf dem Höhepunkt.

Genau 50 Jahre ist es her, dass die 68er die Welt verändern wollten. Junge Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten für einen gesellschaftlichen Wandel. Wie viel Revoluzzertum steckte in der 68er-Generation im Landkreis Kaiserslautern? Was waren deren Ziele? DIE RHEINPFALZ ließ sich von prominenten Bürgern des Landkreises erzählen, wie sie die Zeit damals erlebt haben.

Rose Götte

, frühere SPD-Kultusministerin und -Bundestagsabgeordnete, die am 21. März ihren 80. Geburtstag feierte, studierte noch vor der 68er-Bewegung Germanistik und Philosophie in Tübingen. „In unseren Vorlesungen ging es noch friedlich zu. Aufmüpfigkeit kannte man zu unserer Zeit noch nicht“, konstatiert sie, aber mit Begeisterung und Bewunderung habe sie dann die Studentendemonstrationen verfolgt. „Es war eine Zeit des Auf- und Umbruchs und man hatte große Erwartungen. Die jungen Leute forderten, alte Zöpfe abzuschneiden und durch modernes Denken und demokratische Strukturen zu ersetzen. Als es aber mit dem Terrorismus begann, war es vorbei mit der Begeisterung.“ Ihre zehn Jahre jüngere Schwester sei aktiver gewesen, denn sie habe die Bewegung unmittelbarer miterlebt. Auch an ihrem Ehemann Klaus Götte, einem bekannten Fernseh-Schauspieler, sei die Zeit „mehr oder weniger vorbeigegangen“, wie er verrät. „Nee, wir waren keine 68er. Wir waren nicht mehr jung genug, um da mit zu demonstrieren“, sagt er, der damals in Köln Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft studierte. Gegen den NATO-Doppelbeschluss jedoch seien sie beide anfangs der 1980er Jahre bei den Demonstrationen in Bonn munter mitmarschiert.

"Mehr links von der Mitte orientiert"

Rolf Künne

, von 1991 bis 2009 SPD-Landrat des Landkreises Kaiserslautern, sprudelt wie eine Bergquelle, als er auf diese Zeit angesprochen wird. Er studierte von 1967 bis 1972 in Bonn Jura und hat diese Jahre bewusst miterlebt. „Nun war es in Bonn nicht so extrem wie in Frankfurt oder Berlin“, verrät er. „Ich war auch nicht der klassische 68er im Sinne von Gewalt und Drogen. Damit hatte ich ganz und gar nichts am Hut. Ich war mehr links von der Mitte orientiert, bei weitem nicht in der radikalen Ecke“, versichert er und berichtet von einer Fachschafts-Sitzung in der Uni. „Da robbte sich ein Student nach vorn zu dem Sprecher ans Rednerpult und biss dem ins Bein. So ein Kaspertheater, dachte ich.“ Noch mehr abgestoßen hätten ihn Gewaltszenen. So habe bei einer tumultartigen Aktion ein Student einem Fotografen so heftig gegen die Kamera gehauen, dass das Objektiv im Auge stecken blieb. Darüber hätten sich dann noch umher stehende junge Leute amüsiert. „Schrecklich!“, sagt er. „Bei Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze gab es in Bonn eine hochaktive Gruppe von Studenten. Da war ich natürlich dabei.“ Das Leben sei anders gewesen als heute, deutlich freizügiger. „Die Verkrustung aus der Adenauer-Zeit musste geknackt werden. Es war eine Zeit des Umbruchs und der Verwerfungen, aber auch mit Nachteilen.“

68er-Bewegung aus der Ferne beobachtet

Michael Vogel

, von 1986 bis 2004 Ortsvorsteher von Sambach und über 20 Jahre lang Mitglied im Unterbezirksvorstand der SPD, studierte in jenen Jahren – von 1965 bis 1972 – in Toronto, Kanada, Elektrotechnik und hat die 68er-Bewegung aus der Ferne beobachtet. „Aber auch mich hat die Willy-Brandt-Ära stark beeindruckt und beeinflusst, insofern, dass ich im Ausland wieder ,aufrecht laufen’ konnte.“ Die Kanadier seien ihm als Deutschen gegenüber sehr tolerant gewesen, aber oft genug habe man ihn mit der Frage konfrontiert: „Wie konnte so etwas in der Nazizeit passieren?“ Als er 1972 von Ottawa nach Otterberg zurückkam, habe er sich sogleich im Wahlkampf für Willy Brandt engagiert. „Das hat mich geprägt“, sagt er. Die 68er-Bewegung habe sehr viel Positives gebracht, habe Macht-Autorität durch Sach-Autorität ersetzt, womit anfangs viele nichts anfangen konnten. Abgeschreckt habe ihn jedoch, wie brutal der Staat in Deutschland gegen die demonstrierenden Studenten vorgegangen sei. „In Toronto haben wir auch demonstriert. Aber noch ganz brav, in Anzug und Krawatte. Und die Demo wurde sogar noch angemeldet“, erinnert er sich.

Pariser Mai

Walter Rung

, CDU-Bürgermeister der ehemaligen Verbandsgemeinde Hochspeyer, bekam die Studentenrevolutionen 1968 in Paris, den sogenannten „Pariser Mai“, hautnah mit. „Wir waren damals gerade im Mai auf Klassenfahrt, um Paris kennenzulernen, als die Studentenrevolution auf dem Höhepunkt war“, erzählt er. „Wir interessierten uns natürlich mehr für diese Revolte als für die französische Kultur und waren in Gruppen fast jeden Tag im Quartier Latin oder auf dem Place de la Concorde. Wir erlebten, wie sich Zehntausende im Quartier Latin, dem Uni-Viertel, verschanzten, Pflastersteine aus dem Platz herausrissen und gewaltsam gegen die Polizei vorgingen. Die Garde National war allerdings nicht zimperlich. Mit massivem Einsatz stürmten sie das Studentenviertel und Hunderte von Verletzten waren die Folge.“ Auf dem Place de la Concorde erlebten die Schüler, wie der damalige Studentenführer und spätere Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit mit seinen feuerroten Haaren auf einer Barriere stand und eine flammende Rede hielt. Aber nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland protestierten die Studenten gegen den Kapitalismus, den Vietnam-Krieg, die verkrusteten Strukturen, gegen den latenten Nationalsozialismus, der sich bis in die höchsten Regierungskreise festgesetzt hatte, vor allem aber forderten sie eine Reform des veralteten, erstarrten Bildungssystems, so Rung. „Das hat uns polarisiert. Nächtelang haben wir uns damals die Köpfe heiß diskutiert über Habermas und Adorno von der ,Frankfurter Schule’. Die Zeit war hoch politisiert, und nicht zuletzt war das der Grund, dass ich Politik studiert habe. An der Saarbrücker Universität wurde aber ständig nur gestreikt, wodurch ich zwei Semester verloren hatte. Das konnte ich mir als Junge vom Dorf nicht leisten und habe dann umgesattelt auf Geografie.“ Das war der Beginn seines Umdenkens. Hinzu kam, dass zwei Studenten aus der Enkenbacher Gruppe, Detlev Schulz und Elisabeth van Dyk, in die Terroristen-Szene abgerutscht waren. „Im Studium gab es ständig Konfrontationen mit dem Sozialistischen Studentenbund, dem Spartakus-Bund, den Marxisten und Leninisten, die Andersdenkende radikal abgelehnt haben. Das hat mich schockiert. Das war der Grund, dass ich rechtzeitig die Kurve gekriegt habe. Denn einander zuhören, die Meinung Andersdenkender anerkennen, also Toleranz ausüben, das sind für mich die Grundlagen einer Demokratie.“

Solidaritätsbekundungen

Hartwig Pulver

, Rektor an der Hauptschule und späteren IGS Enkenbach-Alsenborn von 1969 bis 2010 und SPD-Ratsmitglied, war in derselben Klasse wie Walter Rung und erlebte so ebenfalls den „Pariser Mai“. Er studierte von 1969 bis 1972 an der Wormser Erziehungswissenschaftlichen Hochschule (EWH) für das Lehramt und war weit davon entfernt, sich zu organisieren und zu demonstrieren, wie er berichtet. Obwohl es an der EWH durchaus einen Sozialistischen Hochschulbund gab, der den Asta praktisch beherrscht habe. Dessen Aktionen seien jedoch weit entfernt gewesen von den Revolten in Berlin. „Es waren lediglich Solidaritätsbekundungen“, konstatiert er. „Ich hatte von Beginn an ein großes Interesse an der Friedensbewegung, die aus der Studentenbewegung hervorging. Willy Brandt war für uns das große Vorbild. ,Wandel durch Annäherung’ war sein Schlagwort. Weg von der Konfrontation zwischen Ost und West. Herauskommen aus dem Teufelskreis der gegenseitigen Aufrüstung. Vorher gab es von der Regierung nur die starre, konservative Haltung, die uns keinen Schritt voranbrachte. Für mich war das die Zäsur auch in der gesellschaftlichen Situation, die Willy Brandt in Gang gesetzt hat“, sagt Pulver. „Wir wären heute noch nicht so weit, wenn die Studentenbewegung nicht den Anstoß dazu gegeben hätte. Erst viel später kam ich zu dieser Überzeugung und habe mich zur SPD hingezogen gefühlt.“ Die Auflehnung gegen das Establishment sei dann erst der zweite Schritt gewesen.

Nicht an Demonstrationen gedacht

Walter Altherr

, Jahrgang 1946, CDU-Bundestagsabgeordneter von 1990 bis 1994 sowie Landtagsabgeordneter von 1996 bis 2006 und noch einmal von 2010 bis 2011, ist kein Alt-68er. „Ich hatte zwar gewisse Sympathien für die Forderungen der Studenten, von denen ja einige durchaus berechtigt waren, aber ihre gewaltsamen Methoden und Mittel habe ich ganz und gar nicht geteilt“, sagt er. An der Universitätsklinik in Homburg, wo er damals Medizin studierte, habe er sich zwar im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) engagiert, aber an Demonstrationen habe da keiner gedacht, auch gar keine Zeit gehabt. „Das Studium hat unsere Zeit voll beansprucht. Mit Demonstrationen hätte ich sowieso nur meine Zeit verplempert, zumal ich in den Semesterferien gearbeitet habe, um mir mein Studium zu verdienen.“

Autoritäten infrage gestellt

Kurt Becker

, Jahrgang 1953, Rektor an der Realschule plus in Eisenberg von 2001 bis 2015 und SPD-Ratsmitglied, war eigentlich noch zu jung für einen 68er, aber an seiner Schule in Landau habe es durchaus Aktionen und Demonstrationen gegeben, die von der Studentenbewegung angeregt waren. „Wir haben Autoritäten in Frage gestellt und uns die Köpfe heiß diskutiert über Erziehungsziele.“ Thema war damals schon unter den Schülern die antiautoritäre Erziehung der demokratischen Schule Summerhill in England, deren Leiter A. S. Neill forderte, die Erziehung solle möglichst von Zwängen und der Übermacht der Pädagogen befreit werden, damit sie der Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes nicht im Wege stehe. „Auch die Umwelt war schon ein Thema, zumal das Kernkraftwerk Philippsburg gerade in Planung war. Und auch Kriegsdienstverweigerung war ein Riesenthema“, sagt Becker, der in Diskussionszirkeln mitwirkte und sich auch in der evangelischen Jugendarbeit engagierte. „So war die Wirkung der 68er in unserer Schule sehr stark spürbar und hat dazu geführt, dass sich viele Jugendliche politisch engagiert haben. Wir haben mit unserer Meinung in der Öffentlichkeit nicht hinterm Berg gehalten und hatten auch keine Scheu vor Meinungsverschiedenheiten. Gewalt gab es jedoch keine. Die haben wir komplett abgelehnt. Auch nicht mit Worten.“ Das sei damals eine Aufbruchstimmung sondergleichen gewesen. „Wir hatten das Gefühl, dass wir mitwirken und etwas erreichen konnten. Das hat meine spätere Entwicklung stark beeinflusst.“

Doppelte 68erin: Gerade 68 geworden

Sybille Jatzko

aus Krickenbach legt beim Stichwort 68 sofort los: „Und ob ich demonstriert habe!“, sagt die gelernte Krankenschwester und studierte Psychologin. Die SPD-Politikerin ist eine 68erin im doppelten Sinn – denn sie wurde gerade 68 Jahre alt. „Ich war damals 18 Jahre alt und in Frankfurt in der Ausbildung zur Krankenschwester. Da war ich mit vielem nicht einverstanden. Stellen Sie sich vor, drei Wochen am Stück mussten wir Schülerinnen Nachtdienst machen. Ich hatte eine ganze Station alleine zu versorgen. Da habe ich die Schuhe ausgezogen, dass ich schneller voran kam und das Pensum überhaupt bewältigen konnte. Und dann hat man von uns verlangt, dass wir am Morgen wieder zum Unterricht erscheinen sollten. Damals war ich sehr aktiv. Dieser Umgang mit uns Schülerinnen und den Menschen überhaupt hat mir ganz und gar nicht gepasst. Heute noch merke ich, wenn ich darüber nachdenke, welcher Verantwortung wir damals ausgesetzt waren. Das wird mir jetzt erst richtig klar. Und ich bin dankbar, dass das gut gegangen ist“, sagt sie. Stark politisch interessiert sei sie damals noch nicht gewesen. Ein junger Arzt, damals Kommunist, habe sie einmal mitgenommen zu Demonstrationen seiner Gruppe. „Ich war das schwarze, weil rote Schaf in meiner Familie“, verrät Sybille Jatzko. „Die Schwarzen wollten uns damals vormachen: Wenn ihr die Roten wählt, wird alles verstaatlicht!“ Heute ist sie der Überzeugung: „Nur im bürgerlichen Engagement ist Verbesserung in der Gesellschaft möglich.“ Deshalb engagiert sie sich zusammen mit ihrem Ehemann Hartmut Jatzko als ehrenamtliche Leiterin in der Katastrophen-Nachsorge für die Opfer und Hinterbliebenen. Nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2016 planen sie eine Stiftung zur nachhaltigen Versorgung von Terroropfern. „Wo können wir etwas verbessern für die Menschen, wo können wir etwas zum Guten ändern“, ist zum Motto der beiden geworden.

Rauchen für Frauen Protest

Hartmut Jatzko

, Jahrgang 1938, war damals im Sankt-Katharinen-Krankenhaus in Frankfurt junger Assistenzarzt. „Das stand unter einem strengen Regime“, berichtet er. „Da traf ich auf eine Schwesternschülerin, die rauchte eine Zigarette nach der anderen.“ Für Frauen sei Rauchen nach dem Krieg Protest gewesen, weil es in der Nazizeit hieß: „Eine deutsche Frau raucht nicht.“ Nach dem Krieg sei es nicht besser gewesen. Schlagartig aber habe sie mit Rauchen aufgehört, als er sie auf die Nebenwirkungen aufmerksam machte. „Da wurde mir bewusst, dass Sybille Interesse an mir hat.“ Er selbst habe sich als Assistenzarzt und späterer Facharzt politisch zurückgehalten. „Ich bin ja in Görlitz, in der damaligen DDR aufgewachsen. Weil ich mich der christlichen Jugend und dem Jugend-Rot-Kreuz angeschlossen hatte, hat man mich vom Medizinstudium ausgeschlossen. Nachdem man mich bei der kommunistischen Partei angeschwärzt hatte und mir Gefängnis in Bautzen drohte, bin ich Hals über Kopf über Ost-Berlin geflüchtet. 27 Jahre lang konnte ich nicht zurück in meine damalige Heimat.“

Skeptisch gegenüber dem Establishment: Kurt Becker 1972.
Skeptisch gegenüber dem Establishment: Kurt Becker 1972.
Michael Vogel (mit Transparent in der Hand) demonstrierte als Student in Toronto für mehr Geld – noch recht brav, wie er sagt.
Michael Vogel (mit Transparent in der Hand) demonstrierte als Student in Toronto für mehr Geld – noch recht brav, wie er sagt.
Gegen die Verkrustung, aber stets gewaltfrei: Rolf Künne.
Gegen die Verkrustung, aber stets gewaltfrei: Rolf Künne.
War als 18-Jährige schon bei Demos aktiv, wenn auch noch nicht so politisiert: Sybille Jatzko, damals noch Lindemann (Dritte von
War als 18-Jährige schon bei Demos aktiv, wenn auch noch nicht so politisiert: Sybille Jatzko, damals noch Lindemann (Dritte von links), in einer Demo-Gruppe im Jahr 1968 in Dahme an der Ostsee.
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