Ludwigshafen Goethe nicht von gestern

Gefangen in den Qualen der Liebe: Philipp Hochmair als Werther in Nicolas Stemanns Goethe-Inszenierung.
Gefangen in den Qualen der Liebe: Philipp Hochmair als Werther in Nicolas Stemanns Goethe-Inszenierung.

Ehrfurcht vor dem Klassiker war gestern, heute heißt es „Fack Ju Göthe“. Noch vor dem „Faust“ hat sich der Theaterregisseur Nicolas Stemann Goethes Jugendroman „Die Leiden des jungen Werthers“ vorgenommen. In Stemanns eigenwilliger Bühnenfassung von 1997 brilliert der Schauspieler Philipp Hochmair. Im November 2016 war er während der Werkschau des Thalia Theaters schon einmal als Stemanns Mephisto im Pfalzbau zu sehen.

Dieser Werther ist im 21. Jahrhundert angekommen. Der liebeskranke Selbstmörder, der im 18. Jahrhundert das europäische Publikum zu Tränen rührte und seinen jungen Autor über Nacht weltberühmt machte, hantiert mit Mikrofon und Filmkamera. Wie ein berauschter Popstar wirbelt Hochmair über die Bühne, das Mikro in der Hand, halbnackt, in Stiefeln und in der Hose eines Kampfanzugs, einen goldenen Lorbeerkranz auf dem Kopf und ein Kreuz um den Hals. Oder er schneidet Kohl, kramt eine Packung eingeschweißter Würste aus einer Plastiktüte und nimmt sich dabei selbst mit einer Kamera auf. Das auf die Bühne projizierte Video hat etwas von einer Fernseh-Kochshow, und wenn am Ende der Film anhält und ein Bild stehenbleibt, sieht es aus wie ein großes Werbeplakat. Goethes tragischer Roman verbindet sich bei Stemann und Hochmair mit den Trashprodukten einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Die Schwierigkeit, ein vor Liebeskummer zunehmend dem Wahnsinn verfallendes Innenleben darzustellen, löste Goethe, indem er seinen Werther Briefe schreiben ließ. Der Schauspieler André Eisermann, der vor ein paar Jahren mit dem „Werther“ auf Tour war, zelebrierte den Text in Mannheim in einer nahezu sakralen Atmosphäre als langen, hochemotionalen Monolog. Stemann und Hochmair verknappen den Briefroman auf wenige Sätze, die oft auch noch mehrmals wiederholt werden, und nutzen alle Möglichkeiten, die ihnen moderne Technik bietet, um das Innere nach außen zu kehren. Wenn Werther erzählt, wie seine Lotte ihre Hand auf seine legte und zum Zeichen ihrer innigen Verbundenheit den Namen des Dichters Klopstock nannte, dann ertönt aus den Lautsprechern Lou Reeds „Perfect Day“. Wenn Werther sich ermahnt: „Alle Begier’ schweig’ in ihrer Gegenwart“, dann hält Hochmair eine leuchtende Stablampe zwischen den Beinen und stülpt eine Plastiktüte und einen Pappbecher über sie. Goethe zog bei seiner Leidensgeschichte, die vom Paradies in die Hölle führt, Parallelen zwischen äußerer Natur und innerem Niedergang. Den eiskalten Winter am Ende vertritt ein großes weißes Tuch als Vorhang, die Frühlingsgefühle des Verliebten am Anfang das groß projizierte Kamerabild auf einen bunten Blumenstrauß. Den Strauß zerpflückt Philipp Hochmair bald darauf und wirft die Teile ins Publikum, während er sich aus dem Theatersaal ins Foyer verabschiedet: „Tschüss!“ Seine zunehmende Verwirrtheit lassen stammelnde Danksagungen für die Einladung nach Ludwigsburg und an einen Intendanten namens Kürsch oder so erkennen. Da quietscht das vor allem aus Jugendlichen bestehende Publikum vor Vergnügen. Dann wieder brüllt der Rasende immer wieder den Namen des Verlobten der unerreichbar fernen Geliebten: Albert. Manchmal redet er auch Englisch: „Happy birthday, Werther in Ludwigsburg. Thank you!“ Überhaupt geht Regisseur Nicolas Stemann äußerst frei mit dem Text um. „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“ wird aus Goethes Jugenddrama „Egmont“ herbeizitiert, ohne dass es in diesem „Werther“ fremd wirken würde. Irgendetwas von dem jungen Goethe muss in seinem Werther gesteckt haben, in dieser nach einem weitläufigen Bekannten, der sich das Leben nahm, entworfenen Romanfigur. Denn warum hätte Goethe sonst Werthers Geburtstag auf seinen eigenen, den 28. August, legen sollen? Am Ende hält der Todunglückliche eine Pistole an die Schläfe, schlägt mit dem Mikro auf seinen Kopf. Ein dumpfer, lang nachhallender Knall. Das Publikum belohnte Philipp Hochmair mit tosendem Applaus.

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