Neustadt Ein kleiner Schlag und seine Folgen

Gilles (Tobias Brohammer) kann sich nach einer Kopfverletzung an nichts mehr erinnern. Ist das, was ihm seine Ehefrau Lisa (Joha
Gilles (Tobias Brohammer) kann sich nach einer Kopfverletzung an nichts mehr erinnern. Ist das, was ihm seine Ehefrau Lisa (Johanna Regenauer) von ihrer gemeinsamen Vergangenheit erzählt, nun wahr oder nicht?

«Neustadt-Hambach.» Nicht erst am Ende von Eric-Emmanuel Schmitts Drama „Kleine Eheverbrechen“ wird bei der Premiere am Freitag im Hambacher „Theater in der Kurve“ deutlich, wie sehr das Publikum an diesem Abend emotional bewegt wurde. Selten hat eine Kopfverletzung zu so viel Klarheit geführt, wie die, die sich der erfolgreiche Schriftsteller Gilles (Tobias Brohammer) angeblich durch einen Stoß an einen Balken zugezogen hat.

Das Stück beginnt in der Inszenierung von Theaterleiterin Hedda Brockmeyer mit einem dreifachen Ausrufezeichen optischer Art: Mit von der Decke hängenden langen schwarzen und weißen Tüchern ist der Raum geschickt aufgeteilt, in der Mitte eine von unten erleuchtete Sitzbank, auf der einige Kissen Sessel und Sofa darstellen. Die eindrucksvolle farbliche Dualität des Raumes, die gut zu dem Licht und Dunkel der beiden Seelen passt, die in den nächsten 90 Minuten ausgelotet werden, wird lediglich durch eine Flasche Wodka auf einem kleinen Tisch in einer Ecke gestört. Auffällig ist zudem das riesige rote Pflaster auf Gilles’ Stirn, das sich zwischenzeitlich ungewollt selbstständig macht, zunächst die einzige Spur der dramatischen Ereignisse, die vor 14 Tagen in der Wohnung stattgefunden haben und die bewirken, dass Gilles, als er jetzt aus dem Krankenhaus zurückkehrt, keinerlei Erinnerung mehr an sein altes Leben hat. Der größte Hingucker ist allerdings Gilles’ Frau Lisa, gespielt von Johanna Regenaue, im betörenden Schwarz-Rot: hochgebundenes Haar, schwarze Ohrringe, dann einen körperbetonten roten Pullover zur schwarzen Hose und rote High Heels. Auch ihr Mann Gilles, der optisch locker als jüngerer Bruder von Erfolgsrapper Smudo durchgehen würde, ist überwältigt und kann sein Glück kaum fassen: Ausgerechnet diese Schönheit soll seine Frau sein, mit der er schon 15 Jahre verheiratet ist? Zunächst vermutet er in ihr eine Krankenschwester, dann eine Escort-Dame, schließlich eine Witwe, die seine Amnesie ausnutzen will. Als Lisa ihn doch überzeugt, tatsächlich seine Frau zu sein, befürchtet er, sie wolle ihn nun zu einer leeren Hülle machen, zu einem „Doppelgänger in Handschellen“, der nicht mehr der alte Gilles, sondern nur noch eine von ihr gesteuerte Erfindung ist. Auch Lisa kommen Zweifel, ob ihr Mann seinen Gedächtnisverlust nicht nur vortäuscht. Gilles hingegen fragt sich, ob er mit ihr früher tatsächlich stundenlange Bummel durch Boutiquen und Kaffeehäuser unternommen hat, wie sie behauptet. Trotz der Spannungen beschließen die beiden auszugehen, sie zieht sich um, was auch für die Gäste für eine Pause genutzt wird. Spätestens hier wird offensichtlich, wie sehr das Publikum bei diesem Theaterstück mitfiebert, in mehreren Gesprächen wird über den weiteren Verlauf diskutiert. Der Inhalt berührt also, was natürlich auch so gewollt ist: „Mir kommt es so vor, als ob das, was uns mit am meisten bewegt, zu wenig auf die Bühnen gebracht wird“ sagt Regenauer hinter den Kulissen und meint damit die Höhen und Tiefen langjähriger Partnerschaften und Ehen. Regisseurin Hedda Brockmeyer wiederum wählte Schmitts Erfolgsstück, weil es sich vor allem durch ein Wechselbad aus komischen Elementen und noch mehr Dramatik auszeichnet. Besonders gelungen ist dabei Lisa und Gilles’ gemeinsame Erinnerung an die romantische, aber auch frech-witzige erste Begegnung. Und vor allem gegen Ende sprechen die beiden dann in schnörkellosen Sätzen überraschende, tiefe Wahrheiten aus, nach anfänglichem Gekicher und Gelächter ist es da stellenweise so still im Theaterraum mit seinen Kirchenbänken, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Diese Tiefe im Text erreichte der Wahl-Belgier Schmitt, der einer der erfolgreichsten französischen Autoren der Gegenwart, aber auch Doktor der Philosophie ist, nur durch eine jahrelang Beschäftigung mit den Fragen: Wer wollen wir sein und wer sind wir wirklich. International erfolgreiche Stücke zu schreiben ist wunderbar, sie überzeugend auf die Bühne zu bringen, noch viel mehr, und genau das gelingt hier. Denn man fühlt sich mitten in diese Ehekrise hineingeschleudert, verstärkt noch dadurch, dass Regenauer und Brohammer den ganzen Raum inklusive Zuschauerrängen nutzen. Fasziniert und auch betroffen sieht man in die lebendigen, verletzlichen und ausdrucksstarken Gesichter der beiden sehr authentisch wirkenden Akteure – ob sie sich letztlich lieben oder hassen, sei hier nicht verraten. Dem Publikum jedenfalls gefiel die Auflösung und die ganze Aufführung und so holte es die beiden überzeugenden Schauspieler und die Regisseurin zum Schluss mit andauerndem Applaus immer wieder auf die Bühne zurück und nahm auch dankend das Premierenextra einer selbstgemachten Kartoffelsuppe an, zu der Brockmeyer einlud. TERMINE Weitere Vorstellungen von „Kleine Eheverbrechen“ gibt es im Hambacher „Theater in der Kurve“ am Freitag, 23. November, und Samstag, 24. November, jeweils um 20 Uhr sowie am Sonntag, 25. November, um 17 Uhr. Karten (15/10 Euro) unter 06321/ 2147 und in der Buchhandlung Quodlibet.

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