Speyer Geld und Papiere im Puppenwagen

Will im Sommer groß feiern: der Otterstadter Jahrgang 1938.
Will im Sommer groß feiern: der Otterstadter Jahrgang 1938.

«OTTERSTADT.» Sie kennen sich seit 50, 60 oder 70 Jahren: Zahlreiche Schülerjahrgänge treffen sich bis heute regelmäßig. Was hält sie nach so langer Zeit noch zusammen? Sind es die Kindheitserinnerungen? Haben sich die Träume von damals erfüllt? Heute: der Jahrgang 1938 aus Otterstadt.

Neun Schulfreunde verbringen den Nachmittag im Pferdehof auf der Kollerinsel. Ihre „Jahrgang 1938“-Fahne steht auf dem Tisch. Heinrich Bertold und seine Partnerin sind auch dabei. Beide sind aus Wörrstadt gekommen. „Unsere Klassentreffen lasse ich mir nicht nehmen“, erklärt der 79-Jährige, der mit seinem Jahrgang ab 1. September 1944 die Otterstadter Volksschule besucht hat. Christa Hehl berichtet von zwölf Mädchen und 22 Jungen. Vier „Evangelische“ seien dabei gewesen, sagt sie. „Die mussten in Religion rausgehen.“ Waltraud Becker und Cäcilia Sattel kennt Hehl schon seit Kindergartentagen im Schulkeller. „Unter der Schule war das Volksbad“, erinnert sich Kurt Koch an Samstags-Badespaß der Otterstadter für 50 Pfennige. „Zu Hause gab es keine Badezimmer. Nur ein Plumpsklo.“ Drei Kinder des Jahrgangs sind wegen des Krieges gestorben: Dass ein Mädchen ihres Jahrgangs von einem US-Soldaten erschossen wurde, entsetzt die Gruppe noch heute. Zwei Jungen sei zum Verhängnis geworden, dass sie mit einer Granate gespielt haben, die auf der Dorfstraße lag, erzählt Koch vom Tod der Schulfreunde. Ganz unterschiedliche Verläufe haben die Leben der Altersgenossen auf dem Klassenfoto genommen: Eine habe den Lehrer geheiratet, eine andere sei nach Kanada ausgewandert, eine Nonne geworden, die in der zweiten Reihe Köchin des Pfarrers, berichten die Senioren. Beckers Mann ist auch auf dem Klassenfoto zu finden. „Seit dem Tanzkränzel im TuRa-Saal waren wir zusammen“, sagt sie. 53 gemeinsame Jahre sind daraus geworden. Bertold ist der einzige, der das Gymnasium besucht hat. Lehrstellen hätten Anfang der 50er-Jahre ausreichend auf sie gewartet, sagt Hehl. „Gute Zeugnisse gab es nur für regelmäßige Kirchgänger“, berichtet sie von täglichen Gottesdiensten um 7 Uhr. „Alles auf Latein.“ An körperliche Züchtigungen der Schul-Nonnen für „Schwänzer“ können sich alle erinnern. Nach der vierten Klasse seien die Mädchen von den Jungen getrennt worden, berichtet Sattel vom sittlichen Verständnis in den 1940er-Jahren. „Schiefertafel, Griffel, Lappen und Schwamm“, zählt Itter den damals üblichen Ranzeninhalt auf. Ihre Freizeit hätten sie mit Kartoffelkäfer- und Heilkräuter-Sammeln verbracht, erzählt Becker. „Strohballen-Hopsen war unser Sport.“ Für ein paar Pfennige war der Kinobesuch in der Mannheimer Straße drin. An das Kriegsende hat Hehl nicht nur gute Erinnerungen. „Beim Einzug der Amerikaner mussten wir unser Haus verlassen“, erzählt sie. Im Puppenwagen habe sie Geld und Papiere der Eltern an den „Amis“ vorbei in die Notunterkunft transportiert. Dass die ihre Stallhasen gegessen haben, hat die Seniorin nicht verwunden. Becker weiß seitdem, was es heißt, Hunger zu haben. „Wir haben Ähren und Äpfel geklaut und für einen Laib Maisbrot zwei Stunden angestanden.“ Koch kann sich gut an seine Angst beim Anblick schwarzer Menschen erinnern, „die plötzlich am Lindenplatz aufgetaucht sind“. Sie hätten Schokolade an die Kinder verteilt, sagt Otmar Ackermann, dessen Vater in einer Waffenfabrik gearbeitet hatte und sich zeitweise verstecken musste. Fünf Kolonialwarengeschäfte und drei Metzger habe es damals noch im Dorf gegeben, erinnert sich Sattel an die damaligen Einkaufsmöglichkeiten in Otterstadt. Der 21. Juni 1948 ist dem Jahrgang fest im Gedächtnis geblieben. Währungsreform. 40 Deutsche Mark für jeden, auch für Kinder. „Mein Geld ist gleich ans Krankenhaus gegangen“, erzählt Itter von ihrer Blinddarmoperation vor 69 Jahren. Im Sommer will der Jahrgang den runden Geburtstag und 15 Jahre Schülertreffen feiern. „Dann kommen alle, die noch können“, freut sich Becker. Karlheinz Sprau ist der einzige, der den 80. schon hinter sich hat. Gemeinsam hätten sie beschlossen, 103 Jahre alt zu werden. „Wir haben schon so viel überlebt, das schaffen wir“, ist der Jahrgang 1938 überzeugt.

Im Jahr der Währungsreform: der Jahrgang im August 1948.
Im Jahr der Währungsreform: der Jahrgang im August 1948.
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