Kultur Südpfalz Auf der Suche nach Zeit und dem Schatz

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Geschichte und Geschichten erlebbar machen – das ist das erklärte Motto des Chawwerusch-Theaters in Herxheim. Mit „Grimm und Gretel“, seinem neuen Freilichtstück, das am Donnerstagabend auf dem Geilweilerhof in Siebeldingen eine begeistert beklatschte Premiere feierte, setzt das bestens aufgelegte Ensemble unter der Regie von Walter Menzlaw diesem Anspruch einen glanzvollen Höhepunkt hinzu.

„Grimm und Gretel oder die Suche nach dem Schatz“ – schon der Titel dieses thematisch weitgreifenden, historisch tiefschürfenden, gedanklich hochfliegenden Stücks, das Walter Menzlaw, Sieglinde Eberhart und das gesamte Ensemble selbst recherchierten, analysierten, aufs Wesentliche fokussierten und zwischen Historie und Persönlichem sorgsam austarierten, ist ein Knüller. Denn die Gebrüder Grimm definieren sich ja nicht nur durch ihre Märchensammlung, die alte Weisen wie Hänsel und Gretel, Schneewittchen oder den Fischer mit seiner Frau vor dem Vergessen bewahrten. Sie waren vor allem Kinder ihrer Zeit, die von der französischen Revolution durcheinander gewirbelt wurde, Mitglieder einer neunköpfigen Familie, die mehrmals dem grimmigen Gevatter Tod begegnen musste, und ureigene Charakterköpfe, die sich – so „früh erwachsen“ und prinzipientreu wie Jacob (Ben Hergl) oder eher dauerhaft kindlich wie sein nur ein Jahr jüngerer Bruder Wilhelm (Thomas Kölsch) – durchs Leben schlagen mussten. All diese Aspekte sind in „Grimm und Gretel“ gebündelt und werden in chronologischer Abfolge als „Lebensfaden“ von Jacob und Wilhelm aufgerollt. Um einerseits den Überblick nicht zu verlieren und andererseits den Zeitgeist mit einzufangen, wird die Grimmsche Familie auf die gestrenge, aber keineswegs gefühlskalte Mutter (Felix S. Felix), die unbefangene Schwester Lotte (Miriam Grimm) und den tragischen Bruder Ferdinand (Stephan Wriecz) minimiert, das Umfeld unter anderem auf die emanzipierte und unkonventionelle Bettine von Armin, Wilhelms spätere Frau Dortchen und die Viehmännin als einfache Frau und späterer Prototyp der Märchenerzählerin ausgeweitet. Die Schauspieler haben neben ihren hochkarätigen Texten, in die nicht nur die Märchen, sondern auch Prosa von Novalis oder Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“ einfließen, ein aufwändiges Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel zu absolvieren und überzeugen mit starker Bühnenpräsenz sowie der richtigen Mischung aus Ernst und Leichtigkeit, Andeutung und Vertiefung in sämtlichen Rollen. Dabei ist der Anspruch von Buch und Regie hoch, und auch das Publikum wird gefordert von den verschiedenen Schicksalsschlägen, der Aura der Zeit und der manchmal schon manischen Suche nach dem wahren deutschen Wort- und Geschichtenschatz, die durch die elektrisierende Musik von Karl Attel furios und spannungsgeladen vorangetrieben wird. Eine Komödie ist „Grimm und Gretel“ freilich nicht – eher ein tragikkomisches deutsches Familiendrama, in dem die wichtigsten Episoden schlaglichtartig beleuchtet und durch Situationskomik und Wortakrobatik entspannt oder durch sehr ergreifende Momente wie den Totentanz der Mutter oder das Leichenhemdliedchen Ferdinands intensiviert werden. Bei so viel Input, der sich als kontinuierliche Aneinanderreihung von Zitaten aus Märchen und anderen literarischen Werken speist, werden die Zuschauer ganz automatisch in die Grimmsche Schatzsuche miteinbezogen. Woher stammt dieses Zitat? Wer ist Autor dieser Weisheit? Und hat Jacob wirklich mit Hilfe von Vogelgezwitscher die deutsche Lautverschiebung entdeckt? Gut, dass bei der Komplexität des Textes das Visuelle ruhig gehalten wird. Denn sowohl die betont einfach gehaltene Kulisse, die sehr originell mit Büchern spielt, die sich in Kisten, Hüte oder ein Krankenlager verwandeln, als auch die besonders aufwändigen Kostüme (Ausstattung Cansu Incesu und Jörn Fröhlich) sind in reinem Schwarz-Weiß-Kontrast gehalten und deuten so ganz nebenbei die Kunstform des Scherenschnitts an, der ja viele Märchenerzählungen illustriert. Ein Extra-Kompliment haben die fantastischen „Frisuren“ verdient – hochgeschraubte, lockenrollende Haarhauben aus Moosgummi, die der damaligen Zeit entsprechen und sie zugleich karikieren. Aber was heißt schon Zeit? Jacob und Wilhelm Grimm sind bei ihren rastlosen Studien ja oft aus der Zeit herausgefallen, gingen viel lieber „in den Büchern spazieren“, haben die alten Märchen, die in ihrer Mehrheit keineswegs vom einfachen Volk kamen, über die Zeit gerettet und waren mit ihrer Grammatik ihrer eigenen Zeit voraus. All das hat man dauerhaft verinnerlicht, wenn man sich zweieinhalb Stunden Zeit für „Grimm und Gretel oder die Suche nach dem Schatz“ nimmt – und am Ende selbst einen Schatz gefunden hat. Termine Weitere Aufführungen gibt es am heutigen Samstag, 4., und morgigen Sonntag, 5. Juni, jeweils 20 Uhr, auf dem Geilweilerhof in Siebeldingen.

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